Montag, 19.2. – Tag 5 – Daniel

RETROSPEKTIVE

34.

MIT DER KAMERA DURCH ALT-BERLIN

Ein acht Minuten langer Film beglückt mit dokumentarischen Filmaufnahmen aus dem Berlin des Jahres 1928. Dazwischen werden zum Vergleich alte Zeichnungen und Stiche aus dem Jahre 1800 eingeblendet.

Der kurze Film ist weniger ein Portrait der hier wohnenden Menschen als eine Darstellung des architektonischen Wandels.

Natürlich besonders für Berlinfreunde und -kenner interessant, die viele Orte trotz der Veränderungen wiedererkennen können, wie zum Beispiel den just zwei Jahre zuvor erbauten Funkturm oder Klein-Venedig.

35.

DIE ABENTEUER EINER SCHÖNEN FRAU

(Deutschland 1932, R.: Hermann Kosterlitz)

Es gibt wahrhaft schlechtere Alternativen auf der diesjährigen Berlinale, als sich einen Spielfilm mit Lil Dagover aus dem Jahre 1932 zu gönnen. In „Die Abenteuer einer schönen Frau“ stellt sie eine selbständige Bildhauerin dar, Thea Roland, die sich auf der Suche nach einem Model für eine Statue in einen Boxer aus England verliebt und sich im Folgenden trotzdem ihre Unabhängigkeit als Frau, Künstlerin und alleinerziehende Mutter bewahrt.

Die Komödie mit dem offenen Schluss, der ein allzu konventionelles direktes Happy End vermeidet, hat leichte Drehbuchschwächen, besonders in den Aktionen und Motivationen der Hauptfiguren wechselt sich ab und zu allzu unerklärlich um 180 Grad gewissermaßen ihre moralische Ausrichtung.

Das Jahr 1932 wirkt wie das letzte Jahr der Unschuld in dieser Dekade, und doch spürt man bereits die Vorzeichen des dritten Reichs. Der Körperkult der Männlichkeit in den neu entstandenen Fitnesszentren jener Ära wird hier auch zum Glück parodiert wird.

Als einer der ersten Tonfilme hat auch die Filmmusik ihren gebührenden Unterhaltungswert, so zum Beispiel in der non-verbalen Kommunikation purer Freude zwischen dem Vater und seinem kleinen Sohn bei deren erster Begegnung – und das Radio als neues Medienformat spielt eine kleine aber nicht unwichtige Nebenrolle.

Auch der damalige Umgangston in der Gesellschaft ist sehens- bzw. hörenswert, man hat schon manchmal das Gefühl, einer Fremdsprache zu lauschen, wenn Thea im „Clinch“ liegt mit dem „Flaps„. Und Theo Lingen, der eine klitzekleine Nebenrolle hat, sieht so aus wie immer in seiner gesamten Karriere.

GENERATION

36.

DIKKERTJE DAP

(Niederlande, R.: Barbara Bredero)

Das Märchen vom kleinen Jungen Dikkertje und seinem allerbesten Freund, der sprechenden Giraffe Raf. Als Dikkertje in die Schule kommt, kann er nicht mehr so oft wie früher in den Zoo, um seinen besten Freund zu sehen. Damit umzugehen, das muss er erst mal lernen. Mit allen Tricks versucht er den Schulbesuch zu vermeiden. Manchmal endet ein Film anders als man denkt. Hier zeigt sich manchmal auch, ob es ein Film für Kinder, ein „Coming-of-Age„-Film oder ein Film für Erwachsene ist.

Weil der Film ein schönes Märchen bleibt, ist er ein Film für Kinder. Der kleine Dikkertje verliert seinen Freund Raf nicht, sie hören nicht auf, miteinander zu sprechen und Spaß miteinander zu haben, im Gegenteil, sogar Dikkertjes neuer Freund und Klassenkamerad Yous kann Dikkertje verstehen. Was auch gut ist, denn erwachsen werden wir alle früh genug, man muss da nichts erzwingen, besonders wenn man sechs Jahre alt ist.

Die Phantasie in uns, die Kraft unserer Imagination, lässt uns die Grenzen der Kommunikation überwinden – hören wir nicht auf, dem Echo der Tierstimmen in uns zu lauschen. Die Geschichte basiert übrigens auf einem Kindergedicht.

Anmerkung: Dikkertje hat viele unterschiedliche Namen. In den englischen Untertiteln heißt er „Patterson“, im Berlinale-Begleitheft der ARD, die den Film koproduziert hat, ist sein Name „Dominik“. Die naheliegendste Übersetzung „Dickerchen“ würde dem kleinen süßen Fratz aber auch wirklich nicht gerecht werden.

PERSPEKTIVE DEUTSCHES KINO

37.

VERLORENE

(D., R.: Felix Hassenfratz)

Maria und Hannah leben nach dem Tod ihrer Mutter alleine bei ihrem Vater, in der badischen Provinz. Als Valentin, ein junger Zimmermann auf der Walz, im Betrieb der Familie zu arbeiten beginnt, verliebt sich Maria in ihn, doch ein dunkles Geheimnis verhindert, dass Maria ihrer Liebe nachgehen kann. Doch Hannah kommt der Sache auf die Spur.

Das ernste Thema Vater-Tochter-Inzest mit sexuellem Missbrauch wird sensibel erzählt, doch die Grenze zum melodramatischen Heimatfilm wird leider ab und zu überschritten. Die urdeutschesten tragischen Dramen Gerhart Hauptmanns kommen einem dann in den Sinn.

Was bleibt den beiden Schwestern da anderes übrig als gemeinsam die Flucht anzutreten. Marias Orgelspiel – immer wieder ihr Zufluchtsort – weist den Weg in die Zukunft …

FORUM

38.

DEN‘POBEDY (VICTORY DAY)

(Deutschland/Russland, R.: Sergei Loznitsa)

Es spielen sich wahrhaft hanebüchene Vorgänge ab am Sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park in Berlin – am 9. Mai, dem Tag der Befreiung Deutschlands vom Faschismus.

Das Dokumentarmaterial, das im letzten Jahr dort entstanden ist, zeigt eine unglaubliche Bandbreite an politischen und nostalgischen Parallelwelten, die hier aufeinandertreffen. Menschen unterschiedlicher Haltung und Herkunft entfalten ein bizarres Treiben zwischen Anteilnahme, patriotischem Gebaren, Nachdenklichkeit oder folkloristischem Volksfest mit Gesang und Tanz.

Der Kontrast zu dem Spektakel sind die stummen Gesichter und Figuren auf den steinernen Reliefs – sie erzählen eine ganz andere Geschichte von Trauer, Leid und Opfern und auch von den wahren Helden des Tages.

(Ich werde mir das Spektakel sicherlich beim nächsten 9. Mai auch einmal ansehen).

PANORAMA

39.

TRINTA LUMES (Thirty Souls)

(Spanien, R.: Diana Toucedo)

Im Alltag eines galicischen Dorfes scheinen die grenzen zwischen Wirklichkeit und Fiktion zu verschwimmen. Im Hybrid aus Spiel- und Dokumentarfilm weilen Tote unter den Lebenden, während Lebende plötzlich verschwinden.“ So beschreibt der Text im Programmheft den Inhalt. Woran man eines erkennt: Oftmals klingen solche Beschreibungen wesentlich interessanter als der tatsächliche Film. Inhaltlich lässt sich nichts daran aussetzen, d.h. der Film hat all diese Elemente. Jedoch die Umsetzung ist missglückt. Sensationelle Landschaftsaufnahmen auf Galicien und völlig banale Szenen aus dem Alltagsleben der Figuren, dazwischen einzeln verstreut ein paar magische Lichter und eine Handlung, die leider vollkommen untergeht. Kaum zu ertragen ist die verquaste Esoterik. Gesamtwertung: Zwiespältig.

FORUM

40.

14 APPLES

(Burma, R.: Midi Z)

Als Maßnahme gegen Shin-hongs Schlaflosigkeit und Depressionen hatte ihm eine Wahrsagerin empfohlen, für vierzehn Tage ein Kloster aufzusuchen und dort täglich einen Apfel zu essen. Der Glaubensalltag und das Dorfleben gewähren Einblick in die Funktionsweise des Buddhismus im ländlichen Burma.

Es sind sehr lange ausführliche Szenen, in denen wir Shin-hong auf seinem Weg begleiten, die Kamera ist immer in unmittelbarer Nähe. Der langwierige Kauf der Äpfel auf dem Jahrmarkt. Die Fahrt durch die Steppe zu dem Dorf. Eine Gruppe von Jungen, die dem Wagen aus einem Loch im Sand helfen. Das Abrasieren der Haare im Kloster, die Aufnahmezeremonie, die Begrüßung des neuen Mönchs beim Marsch durch durch das Dorf mit dargebrachten Gaben in Form von Naturalien. Die ersten eigenen Predigten, ein Marsch von fünf Frauen mit großen Eimern Wassern viele Minuten lang bis zum Kloster, um den großen Betonbottich wieder aufzufüllen… Die Patrouillen des jungen Mönchen durch das Dorf lassen ihn halb wie einen Hirten, halb wie einen Dorfpolizisten erscheinen: Die Menschen stehen nun in seiner Verantwortung. Das Leben ist alles andere als idyllisch. Und immer wieder wird der nächste Apfel gegessen. Einmal spricht der alte Mönch mit Shin-hong über dessen Leben, der von seinem Laden erzählt. Wie ein kurierendes Zauberwort erklärt der alte Mönch, scheinbar nur nebenbei: „Es ist gut, einen Laden zu haben.“ Wenig später, in der Abenddämmerung, isst Shin-hong den letzten der vierzehn Äpfel. Unspektakulär und ohne weitere Ausblicke endet der Film. Das eigene Glück muss der Zuschauer anderswo finden.

BERLINALE TALENTS EVENT

41.

A Place Like Home: The Cinema of Gus Van Sant

Im Rahmen der Panels auf dem Berlinale Talente Campus finden sich viele der Regisseure und Filmkünstler, die in diesem Jahr auf der Berlinale vertreten sind, auch zu Gesprächsrunden ein, um über das Filmemachen und ihre Erfahrungen mit Schauspielern und der Industrie zu sprechen. Nicht zuletzt natürlich gehört auch ein wenig Klatsch über die berühmten Stars dazu.

Gael García Bernal, Sir Ken Adam, Charlotte Rampling oder auch Roland Emmerich – sie alle konnte ich hier in den letzten Jahren einmal live erleben.

In diesem Jahr war es Gus van Sant, ein besonders sympathischer Regisseur, der viele interessante Details aus den Anfängen seiner Laufbahn erzählen konnte. So hat z.B. die Vorbereitung von MY OWN PRIVATE IDAHO zehn Jahre gedauert. Um den Film zu finanzieren, war der Besuch auf der Berlinale in den Achtziger Jahren hilfreich gewesen, dort habe ihm der Schauspieler und Filmemacher Christoph Eichhorn entscheidende Ratschläge geben könne, wie er den Film finanzieren konnte. Und natürlich traf van Sant damals auch Udo Kier, der ja nicht nur in MY OWN PRIVATE IDAHO sondern auch in DON’T WORRY, HE WON’T GET FAR ON FOOT eine kleine Nebenrolle hatte. Aufschlussreich waren auch die Erfahrungen mit William S. Burroughs, der eine kleine Rolle in DRUGSTORE COWBOY spielte, aber erst, nachdem die Figur komplett umgeschrieben wurde – letzten Endes schrieb Burroughs alle seine Szenen selber. Und der Arbeitsstil von van Sant ändert sich übrigens auch nicht, egal ob es sich nun um eine Hollywoodproduktion wie MILK handele oder um ein Independentprojekt.