Dienstag, 20.2. Tag 6

Perspektive Deutsches Kino draußen outside

von Johanna Sunder-Plassmann, Tama Tobias-Macht Deutschland 2018 Deutsch Dokumentarische Form

Obdachlose, Berber, Vagabunden, Nichtsesshafte. Alles das Gleiche? Oder völlig Unterschiedliches? Manchmal leisten bereits die Worte Hilfestellung für einen Perspektivwechsel. Auch draußen nimmt andere Perspektiven ein: Der Film begleitet vier Menschen, die auf der Straße leben und wenig besitzen. Darunter nichts, was gesellschaftlichen Status sichtbar machen könnte, und dennoch alles wertvoll. Matze, Elvis, Filzlaus und Sergio sind Überlebenskünstler und Persönlichkeiten. Um ihre Geschichten zu erfahren, verfolgen die beiden Regisseurinnen eine besondere Strategie: Sie konzentrieren sich auf die Gegenstände, die ihre Protagonisten bei sich tragen. Sie bitten sie, ihnen ihre Welt zu öffnen und einen Blick in ihre Plastiktüten, Taschen, Einkaufswagen zu gewähren, so, als würde man ein fremdes Haus betreten. Die Objekte darin enthalten — eben weil es nur so wenige sind — eine Fülle von Informationen und Bedeutungen, sind mit Emotionen und Erinnerungen aufgeladen, Bruchstücke von Lebensgeschichten. In Gesprächen nimmt diese Fülle Gestalt an. Wir berühren und werden berührt.
Deutschland 2018 Deutsch Dokumentarische Form 80 Min · Farbe · 2K DCP Weltpremiere
Unaufgeregt belgeitet die Kamera ihre Protagonisten. Die Männer erzählen von ihrem Leben, ihren Problemen, ihren Wünschen und Idolen. Die Kamera wirft einen intimen Blicke auf ihre Schätze und ihr Eigentum, während wir erfahren, warum sie auf der Straße leben und teilweise ihre Familien verlassen haben. Ausgeklammert wird die Interaktion mit anderen Menschen. Optisch gibt es einige spannende Eintellungen, die Objekte gut in Szene setzen. Die Doku ist unaufgeregt und ohne überraschungen, gut gemacht.

Generation 14plus Unicórnio Unicorn

von Eduardo Nunes  Brasilien 2017 Portugiesisch
mit Bárbara Luz, Patrícia Pillar, Zé Carlos Machado, Lee Taylor
„Ich weiß nicht, was es war, Papa. Ich denke, es war das Licht, das durch das Fenster kam und ihr Gesicht erhellte. Mama! Warum siehst du so schön aus?“ In berauschend immersiven Bildern zeichnet das rätselhafte Drama die Coming-of-Age-Geschichte der 13-jährigen Maria, die allein mit ihrer Mutter in ländlicher Abgeschiedenheit lebt. Als ein junger Mann mit seiner Ziegenherde in die Nachbarschaft zieht, gerät ihr Leben aus dem Gleichgewicht. Während in Maria verborgene Wünsche und Ängste aufkeimen, beobachtet sie besorgt, wie ihre Mutter aufblüht. Ihre Gedanken teilt Maria nur mit ihrem Vater, den sie in einer irreal anmutenden Heilanstalt besucht. Wieso ist er dort? Und warum behauptet er, dass Gott böse sei? Maria entschließt sich zu etwas Unbegreiflichem. Zwischen betörender, visueller Opulenz und der märchenhaften Poesie seiner Erzählung schafft der Film einen Raum, der Fantasie und Reflexion zugleich nährt.
Zwei Kurzgeschichten wurden hier umgesetzt. der Film besticht durch seine Landschaft und deren Charakter, während ich das zu Filmbeginn und zwischendurch auftauchende EInhorn als überflüssiges Beiwerk befand. Hoffentlich sieht niemand den Film wegen des Einhorns an. Spannender ist die Geschichte des Mädchens,aus eren Perspektive wir die Tage erleben und das eifersüchtig reagiert, als die Mutter dem jungen Hirten näher kommt. Geräusche, Bäume, Tiere und eben die Landschaft bieten eine gute Kulisse und wir wissen nicht, ob die Unterhaltungen mit dem Vater in einem dunklen gekachelten Zimmer ihre Fantasie sind oder vielleicht seine. Skuril, fast ein wenig schrullig und er könnte die Kurzgeschichte auch kurz erzählen, doch die Ästhetik der Bilder steht im Vordergrund.
Forum Teatro de guerra Theatre of War

von Lola Arias Argentinien / Spanien 2018 Spanisch, Englisch, Nepalesisch
Dokumentarische Form
Der Krieg um die Falklandinseln dauerte von April bis Juni 1982 und kostete 655 argentinische und 255 britische Soldaten das Leben. Er endete mit der militärischen Niederlage Argentiniens und bis heute umstrittenen Gebietsansprüchen zwischen den beiden Staaten.
35 Jahre nach Kriegsende lädt die argentinische Künstlerin und Regisseurin Lola Arias Veteranen ein, sich zu erinnern – gemeinsam, zu zweit oder im Dialog mit der Kamera. Briten und Argentinier stehen sich als ehemalige Feinde gegenüber. Zugleich bilden sie ein Ensemble, wenn sie etwa in einem verlassenen Gebäude, einer Bühne gleich, eine Kampfszene nachstellen. Landkarten, verblichene Zeitschriften, Aufnahmen aus der unwirklichen Gegend der Gefechtsschauplätze liefern visuelle Ausgangspunkte und filmische Räume für ihre Geschichten über die Angst vorm Sterben und vorm Töten, über die Auswirkungen eines Krieges, der sie alle gezeichnet hat. Doch Teatro de guerra bleibt nicht in der Vergangenheit: In inszenierten Begegnungen mit jungen Schauspielern, die heute so alt sind wie Marcelo, Jim und die anderen es damals waren, stellt der Film auch die Frage, wie Erinnerungen vererbt werden und weiterleben.
Spannendes Projekt, das hier für die Leinwand adaptiert wurde. Der Malwinas/Falkland Konflikt von Veteranen/Soldaten, Anfang 50, aus ihrer Perspektive ein wenig aufgearbeitet. Leider wirken die Ausschnitte fast beliebig, auch wenn der rote Faden klar wird, vielleicht hätte man doch bei der Installation und dem Theaterstück bleiben sollen, auch wenn es spannend ist, hier eine Auseinandersetzung von beiden Seiten mitzubekommen und auch die junge Generation in Form von Schülerinnen und Schülern mit einbezogen wird.
Forum
An Elephant Sitting Still

von Hu Bo
Volksrepublik China 2018
Mandarin
mit Zhang Yu, Peng Yuchang, Wang Yuwen, Liu Congxi
In der nordchinesischen Stadt Manzhouli soll es einen Elefanten geben, der einfach nur dasitzt und die Welt ignoriert. Manzhouli wird zur fixen Idee für die Helden dieses Films, zum erhofften Ausweg aus der Abwärtsspirale, in der sie sich befinden. Da ist der Schüler Bu, der auf der Flucht ist, nachdem er den Schulhofschläger Shuai die Treppe hinuntergestoßen hat. Dann Bus Mitschülerin Ling, die mit ihrer Mutter bricht und sich von ihrem Lehrer umgarnen lässt, und Shuais älterer Bruder Cheng, der sich für den Suizid eines Freundes verantwortlich fühlt. Schließlich, neben vielen anderen Figuren, deren Schicksale untrennbar verknüpft sind, Herr Wang, ein rüstiger Pensionär, dessen Sohn ihn in ein Heim verfrachten will. In virtuosen Bildkompositionen erzählt der Film einen einzigen spannungsgeladenen Tag vom Morgengrauen bis zum Abend, wenn endlich der Zug nach Manzhouli abfahren soll.
Hu Bo, der in China bereits mit seinen Romanen Aufsehen erregte, gibt mit diesem vierstündigen Porträt einer Gesellschaft von Egoisten sein elektrisierendes Regiedebüt. Tragischerweise ist es zugleich sein Testament. Am 12. Oktober 2017 hat sich der 29 Jahre junge Künstler das Leben genommen.

Als es nach 2,5 Stunden aufregend wurde, hab ich erstmal eine halbe Stunde Pause gemacht, bevor ich mit dann die letzten Minuten angesehen habe. Pause hab ich deswegen gemacht, weil die Charaktäre wie Puppen wirkten, die von jemandem gespielt werden, fast zombiesk in ihrer gesellschaftlichen Stellung oder in ihren Positionen gefangen wirkten. Der Ausbruch wirkte dann umso heftiger. Die Geschichte ist dabei keine Minute langweilig, auch wenn sie in grauer depressiver Umgebung spielt, sondern steigert sich bis zuletzt und verwehrt dann doch irgendwie den Höhepunkt, trotz Tod und Leid, Rache, Unterdrückung und fehlender Zukunftsperspektiven. Schüler und ihre Träume, ihre Altagsprobleme, Mobbing und Sehnsüchte nach etwas Anderem, etwas Besserem bilden den Mittelpunkt der Geschichte und dazu die Flucht vor möglichen Konsequenzen der eigenen Handungen. Vielleicht ist es doch der Lichtblick, wenn es heißt, wollen wir nachsehen, ob es woanders wirklich nicht besser ist. Und dann ist da noch der Sitznde Elefant, der verbindet. Sehenswert.

Forum
Yours in Sisterhood

von Irene Lusztig
USA 2018
Englisch
Dokumentarische Form
Atlanta, vor einer Tankstelle an einer kleinstädtischen Straßenkreuzung. Bowling Green, Kentucky, auf einem Privatanwesen mit perfekt gepflegtem Rasen. Ein Garten vor einem Einfamilienhaus in Connecticut. Auf den ersten Blick sind es unscheinbare Orte, an denen Irene Lusztig auf ihrer zweijährigen Reise durch die USA mehrheitlich Frauen bittet, Leserbriefe vorzulesen und zu kommentieren, die aus dem Archiv der liberal-feministischen Zeitschrift „Ms.“ stammen. Geschrieben vor ungefähr 40 Jahren, zumeist von Frauen, die in der Zeitschrift erschienene Artikel zum Anlass nahmen, von sich zu erzählen – offenherzig, privat, oft erleichtert, manchmal erbost. In den Briefen geht um Schwangerschaftsabbrüche, um lesbische Liebesaffären von verheirateten Frauen, um die Ignoranz des Magazins gegenüber Lebenswirklichkeiten schwarzer Frauen…
Irene Lusztig gelingt es in ihrer dokumentarischen Inszenierung, einen Fundus der Frauenbewegung von damals in eine vielschichtige Beziehung mit der Gegenwart zu bringen. Das Wort steht dabei nur vermeintlich im Vordergrund. Dem Publikum ist es überlassen, einen feministischen Kosmos zu entdecken, den Yours in Sisterhood auf vielen Ebenen zugänglich macht.

Spannend, wie die Briefe vorgelesen werden und erschreckend, wenn Leute von Heute, mit den Problemen aus den 70ern konfrontiert werden und feststellen, dass die Gesellschaft sich nicht zum Besseren weiterentwickelt hat, sondern nur ihre Probleme vor sich herschiebt. Manchmal sogar wieder ins Gegenteil verkehrt. Emanzipation ist ein Prozess, auf dem man sich nicht ausruhen kann, es ist eine stetige Bewegung und ein Muss, daran weiterzuarbeiten und etwas zu unternehmen, erkennen auch die Leserinnen von Heute. Während am Anfang nur gelesen wird, übernimmt im Laufe des Films die Kommentierung und Einschätzung selbiger eine immer wichtigere Rolle. Sehenswert, gerne kürzer.
Forum
14 Apples

von Midi Z
Taiwan / Myanmar 2018
Burmesisch
Dokumentarische Form
Wang Shin-hong leidet unter Schlaflosigkeit. Ein Wahrsager rät zu einer 14-tägigen Kur, während der der Geschäftsmann aus Mandalay – sein Auto, seine gefüllte Geldbörse verraten, dass die Geschäfte relativ gut laufen – sich als temporärer Mönch in einem Kloster aufhalten und täglich einen Apfel essen soll. So etwas geht in Burma, heute.
Wang Shin-hong kommt im zugewiesenen ländlichen Kloster an, wird rasiert und ist in der roten Kutte prompt eine Autorität. Die Frauen im Dorf – man sieht ihrer Kleidung, den Hütten im Hintergrund an, wie arm sie sind – stecken auf der Willkommensprozession mehr als sie haben in seine Almosenschüssel. Wang Shin-hong erfährt wenig später als ihr Berater, der er kurzzeitig geworden ist, von den Versuchen der Dorfbewohner, wie sie als legale oder illegale Arbeitsmigranten in China, Thailand oder Malaysia versuchen zu überleben, ein Auskommen zu finden. Und davon, wie die anderen Mönche im Kloster versuchen, von den zusätzlichen Einkünften zu profitieren. 14 Apples ist ein verstörender Dokumentarfilm über die verführerische Macht eines nicht nur an humanistischen Idealen ausgerichteten Buddhismus im Globalisierungszeitalter.

Nach 7 Äpfeln war Schluss, dann endet der Film. Ich will nicht behaupten, dass das spannnend war. Ein Ausschnitt aus einer Realität, ein paar Ängste, Sehnsüchte und Probleme, die Aufmerksamkeit erfordern. Naja, ok.