Dienstag, 20.2. – Tag 6 – Daniel

FORUM

42.

Vorfilm:

ACCIDENCE

(Kanada, R.: Guy Maddin, Evan Johnson, Galen Johnson)
Es passiert viel zu viel auf der Welt. Es passiert auch viel zu viel auf den Balkonen gegenüber. Würde er heutzutage noch aus dem „Fenster zum Hof“ blicken, James Stewart bekäme überhaupt nicht mehr alles mit.

Beim anschließenden Q&A erklärten Galen und Evan Johnson übrigens interessanterweise, sie hätten bei der Konzeption des Films überhaupt nicht an „Rear Window“ gedacht.
Link zum Trailer auf Youtube

Hauptfilm:

THE GREEN FOG

(Kanada, R.: Guy Maddin, Evan Johnson, Galen Johnson)

Ein elementares Meisterwerk der Sonderklasse konnte heute abend im Cinestar IMAX seine Premiere feiern. Die Ursuppe aller Meta-Filme. Starring: (beinahe) sämtliche Filme und TV-Serien, die in San Francisco gedreht wurden. Introducing: Der Grüne Nebel!

Guy Maddin, der Spezialist für das Obskure und Bizarre, liefert uns – zusammen mit seinen kongenialen Partnern Galen und Evan Johnson – mehrere Filme in einem. Zunächst ist es die Liebeserklärung an die Filmstadt „San Francisco“ – der Reigen an Filmzitaten kennt keine Unterschiede zwischen qualitativen Höhen und Tiefen, so reiht sich eine Szene aus einem Film Noir mit Joan Crawford nahtlos an einen Action-Streifen mit Chuck Norris. Doch die Aneinanderreihung entspricht durchaus einem strengen formalen Konzept. Die Komposition der Filmszenen ist eine Rekonstruktion wie auch Dekonstruktion von Alfred Hitchcocks „VERTIGO“. Jede Einstellung aus „VERTIGO“ ist ersetzt worden durch eine entsprechende Einstellung aus dem Film-Kosmos um San Francisco.

Das ästhetische Format lotet die Höhen und Tiefen filmischer Darstellungskunst aus. In Erscheinung treten statt James Stewart und Kim Novak alle möglichen anderen Film- und Serienfiguren, die man kennt oder auch nicht, so natürlich auch Karl Malden und Michael Douglas aus den Straßen von San Francisco. Dieser darf sogar in einer amüsanten Brechung der Erzählstruktur sich selbst auf der Leinwand in „Basic Instinct“ erblicken. „You’re looking good, Mike. Ever thought of going into Show Business?“ lautet der passende Kommentar. Nicht, dass das wichtig wäre. Douglas hat Glück, denn die meisten Dialoge der Filmfragmente hat Guy Maddin einfach herausgeschnitten, so dass wir nur die Gesichter und ihr sonderbares Minenspiel sehen. Mit einigen Ausnahmen klingen die meisten Dialogszenen dann folgendermaßen: Einblendung der Hintergrundgeräusche.

Doch eine pure Aneinanderreihung von Miniaturfragmenten wäre zu banal. Es zieht sich ein roter Faden durch die Handlung, oder vielleicht sollte ich sagen, ein grüner Faden. Wie herabgestiegen aus der Erzählebene jenseits der Diegese taucht ein geheimnisvoller grüner Nebel auf, der das Unzusammenhängende miteinander verbindet und gleichzeitig eine eigene unerklärliche Parallelwelt kreiert.

Der zweite grüne Faden, der an die Stelle der Dialoge tritt, ist der Soundtrack von Jacob Garchik, der vom Kammermusik-Ensemble Kronos-Quartett gespielt wird – welches übrigens auch eine Institution der Stadt San Francisco ist.

THE GREEN FOG ist perfekt, wenn auch die Maddin-typische Faszination eines skurrilen Drehbuchs seiner Langspielfilme und seine liebgewonnene Muse Louis Negin fehlen, der wohl anscheinend niemals in einem Film mitgespielt hat, der in San Francisco gedreht wurde… Doch allen cineastischen Liebhabern von Meta-Filmen sei dieses Werk wärmstens empfohlen, nicht zuletzt um das wahre Geheimnis von Chuck Norris zu ergründen, dessen extrem ausdrucksstarke Reglosigkeit der Gesichtszüge selbst die Unnahbarkeit von Kim Novak noch in den Schatten stellt.

Weitere Vorführtermine:

Mittwoch, 21.02., 22:45, Cubix 9

Freitag, 23.02., 11:00, CineStar 8

Sonntag, 25.02., 16:00, Delphi Filmpalast

Link zur URL-Seite der Berlinale mit dem Programmvermerk zu „THE GREEN FOG“

Link zum Trailer auf Youtube

WETTBEWERB:

43.

DON‘T WORRY, HE WON‘T GET FAR ON FOOT

(USA, R.: Gus van Sant)

Based on True Shit – die Lebensgeschichte des Cartoonzeichners John Callahan, der nach einem Unfall an den Rollstuhl gefesselt ist und im Zeichnen eine Form der Therapie entdeckt. Gus van Sants neuer Film ist ergreifend, emotional, aber nie sentimental oder melodramatisch. Joaquin Phoenix liefert eine herausragende schauspielerische Leistung in dieser auch sonst prominent besetzten witzigen und berührenden Überlebensstudie.

Auch der zeitliche Kontext ist erfrischend realistisch inszeniert – man hat tatsächlich das Gefühl, wieder in die frühen Achtziger Jahre zurückzukehren. Was im Übrigen für John Callahan wesentlich wichtiger ist, ist die Überwindung seiner Alkoholsucht und seines Selbsthasses, hier hilft ihm nicht nur eine Therapiegruppe, sondern auch die Vision seiner leiblichen Mutter, die er nie persönlich kennengelernt hatte.

Wie uns der Regisseur schon einen Tag vorher bei einem Panel des Berlinale Talente-Campus erzählte, hatte ursprünglich Robin Williams diesen Stoff bearbeiten wollen, aber nach dessen Freitod hatten die Produzenten sich dann an van Sant gewandt, und dieser war zum Glück daran interessiert gewesen.

Weitere Vorführtermine:

Mi 21.02. 09:30
Friedrichstadt-Palast (D)

Mi 21.02. 12:30
Haus der Berliner Festspiele (D)

Mi 21.02. 17:30
Friedrichstadt-Palast (D)

Fr 23.02. 12:30
Zoo Palast 1 (D)

So 25.02. 14:30
Friedrichstadt-Palast (D)

44.

KHOOK

(Iran, R.: Mani Haghighi)

Anarchistisch, morbide, phantasievoll, lebendig, skurril und mit viel brutalen Szenen von ermordeten Filmregisseuren Irans, die allesamt geköpft wurden. Doch warum sollte das einen unangenehm berühren – die meisten der Todesopfer waren ja ziemlich schlechte Regisseure, zumindest nach Meinung Hasans, dem immer noch lebenden Regisseur. Hasan – ein Regisseur mit Drehverbot – beginnt sich allmählich zu wundern, als ein Rivale nach dem anderen geköpft wird … Er fragt sich: „Warum denn nicht ich? Bin ich als Regisseur nicht gut genug?“ Abgesehen von seiner gekränkten Eitelkeit kommt erschwerend hinzu, dass die Polizei ihn selber für den Hauptverdächtigen hält. Zwischen den sehr lustigen aber auch bizarren Verwicklungen, in denen die modernen sozialen Medien, aber auch seine eigene Mutter (die ihr eigenes Gewehr hat) keine unwesentliche Rolle spielen, sind die Phantasieszenen die Höhepunkte des Films, in denen sich Hasan als Hardrockstar à la AC/DC imaginiert. Die Lösung ist allzu deprimierend und entlässt den Zuschauer ernüchtert in die Realität der religiösen Fanatiker, die der Freiheit der Kunst ihren Kampf angesagt haben…

Weitere Vorführtermine:

Mittwoch, 21.02., 19:00, Berlinale Palast

Donnerstag, 22.02., 13:30, Friedrichstadt-Palast

Donnerstag, 22.02., 18:30, Haus der Berliner Festspiele

Donnerstag, 22.02., 22:30, International

Sonntag, 25.02., 20:00, Friedrichstadt-Palast


PANORAMA:

45.

ONDES DE CHOC – PRÈNOM MATHIEU

(Schweiz, R.: Lionel Baier)

Auch dieser Film beruht auf wahren Ereignissen in der Schweiz der achtziger Jahre: Für Mathieu Reymond muss das Leben weitergehen. Nachdem der 17-jährige von einem Serientäter misshandelt und vergewaltigt, schleichen sich immer mehr Details der Tat und zur Person des Täters in sein Bewusstsein und in seine Träume. Die Familie ist erschüttert, rührend ist der Polizist, der sich sensibel und voller Anteilnahme um Mathieu kümmert, um sein Erinnerungsvermögen zu sensibilisieren. Aber auch die Umwelt, Mitschüler, Lehrer, die Freundin, wissen nicht, wie man dem seelisch verwundeten Jungen helfen kann, der sich immer seltsamer verhält, fast so als gäbe er sich selber die Schuld für die Untat. „Was stimmt denn nicht mit mir?“ lautet seine verzweifelte Frage am Schluss der Film; auf diese Frage muss selbst der Polizist die Antwort schuldig bleiben. Ein packendes Seelendrama mit ein paar aufheiternden Szenen zwischendurch (wie zum Beispiel die Einweihung der neuen Mikrowelle, des damals neuesten Hypes der Achtziger Jahre).

Weitere Vorführtermine:

Mittwoch, 21.02. 17:00, Cubix 9
Freitag, 23.02. 22:45, CineStar 3

BERLINALE SPECIAL GALA

46.

DAS SCHWEIGENDE KLASSENZIMMER
(D., R.: Lars Kraume)
Die wahre Geschichte einer Abiturklasse in Eisenhüttenstadt in der DDR (welches damals Stalinstadt hieß) im Jahre 1956. Durch eine Schweigeminute zu Ehren der Opfer des Ungarnaufstandes wird das politische System in Unruhe versetzt.
Gegen den Druck des Regimes und der Familien leistet die Klasse ihren eigenen Akt des Widerstands. Doch für fünf der Schüler wird die Krise auch zur Belastungsprobe ihrer eigenen Freundschaft. Manchmal lässt sich die politische Überzeugung nicht vereinbaren mit dem, woran man im Herzen glaubt, besonders wenn auch die Familie noch in das Spiel mit hineingezogen wird.
Es zehrt an der Substanz, mit ansehen zu müssen, wie die Klasse seelisch terrorisiert wird vom hasserfüllten Bildungsminister und seinen Schergen.
Die schwierigen Texte der manchmal sehr dramatischen Szenen sind eine Herausforderung, der die jungen Schauspieler nicht immer gewachsen sind – hier ist im Zweifelsfall das „Über-Agieren“ angesagt.
Die Filmmusik ist thematisch etwas zu stark angelehnt an „Midnight Cowboy“ von John Barry, und wird in den dramatischen Momenten allzu heftig laut, damit der Zuschauer auch ganz genau weiß, was er dabei fühlen soll.
Trotz einiger Längen und gelegentlich all zuviel Sentimentalität ein sehenswerter Film.

Zum Vergleich hier der Link zum musikalischen Thema „Midnight Cowboy“ von John Barry auf Youtube.

Nachtrag:

Und nun noch ein Link zum etwas ausführlicheren Radiobeitrag auf meiner Homepage, der anlässlich des Kinostarts am 1. März im Magazin „Stoffwechsel“ auf Radio Z ausgestrahlt wird.

BERLINALE CLASSICS

47.

MEIN XX. JAHRHUNDERT
(Ungarn 1988, R.: Ildikó Enyedi)
Ein bezauberndes Märchen über die Schicksalsstunde der Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert – erzählt durch die zwei völlig unterschiedlichen Biographien zweier Zwillingsschwestern, von denen die eine zur anarchistischen Widerstandskämpferin wird und die andere zur hedonistischen Hochstaplerin.
Als Nebenfiguren treten sowohl Thomas Edison wie auch Nikola Tesla in Erscheinung, doch auch die glitzernden Sterne sprechen zu den Figuren, ebenso wie die leuchtenden Glühbirnen. Die Poesie der Bilder und Klänge sowie die Erotik des Rätselhaften ziehen den Zuschauer in den Bann.
Das Schmankerl des Films ist Paulus Manker in der Rolle des frauen- und judenfeindlichen Sexualphilosophen Otto Weininger. Eine Rolle, die er dann ein Jahr später noch ein zweites Mal in der Verfilmung von Joshua Sobols Theaterstück „Weiningers Nacht“ spielte.
„Mein XX. Jahrhundert“ ist als Schwarzweißfilm eine Hommage an den Stummfilm und daher auch mit dessen Mitteln inszeniert (Moderation für Radio: Im Hintergrund hören wir gerade die Schlussklänge des Films). Und er bietet ein erzähltechnisch raffiniertes Ende an – die Zeit wird zurückgedreht.
Auf der Berlinale 2018 wird erstmals eine digital restaurierte Fassung im Format 4K DCP aufgeführt.

FORUM EXPANDED

48.

Programm XI

ONWARD LOSSLESS FOLLOWS

(USA, R.: Michael Robinson)

Wieder eine Montage aus Film- und Videomaterial, diesmal über das Ende der Zeit im vom Klimawandel bedrohten Amerika.

Ein Lehrvideo aus den Achtziger Jahren über die Gefahr, bei Fremden ins Auto zu steigen, verwandelt sich durch geschicktes Umkehren der Reihenfolge der Szenen und durch zusätzliche Einblendungen von Smartphone-Textbotschaften in eine unmögliche Liebesgeschichte. Ein Hubschrauber rettet ein Pferd aus einer Schlucht und fliegt mit ihm über das weite Land – für den Betrachter ein seltsames Gefühl der Poesie und der Rührung, für das Pferd eine wundersame Reise.

Ein manischer Prediger wettert gegen die moderne Welt mit den Worten: „There is no helping Star“.

Die Flut der Bilder endet in einem ekstatischen Pandämonium der unterschiedlichsten medialen Formate. Es wird kein Wasser von der Venus geben, um Kalifornien zu retten.

DIE SCHLÄFERIN

(D., R.: Alex Gerbaulet)

Der Blick gleitet durch zwei verschiedene leere Wohnungen. Verschwunden sind die beiden Hausfrauen, die einst in diesen beiden Wohnungen lebten mit ihren Ehemännern. Sie kannten sich nicht, doch sie teilen das gleiche Schicksal, mit einem zeitlichen Abstand von zehn Jahren. Die Schlagzeile der beiden Zeitungsartikel ist identisch.

Was ist geschehen? In beiden Zeitungsartikeln heißt es: „Sie habe zurückgezogen gelebt und sei eine unscheinbare Frau gewesen“. Zitat Ende. Bis zu dem Moment, an dem bei diesen beiden Frauen plötzlich die entsetzliche Verzweiflung durchbricht. Die Spirale der täglichen häuslichen Gewalt endet durch ihren eigenen Gewaltakt.

Biografische Informationen erfolgen per Ton von den Angehörigen. Die Geschichte der beiden Frauen wird rekonstruiert und imaginiert – doch sie bleiben unsichtbar, so wie Tausende anderer Frauen, die unter häuslicher Gewalt leiden.

Der rein formale Aspekt der Inszenierung ist gelungen, aber es überwiegt die Betroffenheit der zwei Geschichten, die man nur erahnen kann.

WA AKHIRAN MUSIVA (At Last, A Tragedy)

(Libanon/Syrien, R.: Maya Shurbaji)

Eine von Schwermut paralysierte Seele sucht nach Befreiung von der Last, doch die Suche nach dem Ursprung der Schwere löst eine Angst aus, die den Körper und den Geist angreift.

Die Filmemacherin macht sich auf die Suche nach ihrer Tragödie, bemüht sich, sie zu fassen zu bekommen, findet sie in ihrem Körper und trennt sie heraus, doch sogleich ist die Tragödie wieder verschwunden.

Die Suche beginnt von neuem. Ein schwarzes Kleid hängt vor dem Fenster. Einer der geheimnisvollsten und traurigsten Filme der Sektion FORUM EXPANDED.

IT

(Belgien, R.: Anouk de Clercq, Tom Callemin)

Eine anmutige Begegnung von Licht und Dunkel. Im Dunkeln liegt der Wald, man hört nur die Zikaden. Allmählich wird es heller, der Birkenwald wird sichtbar wie bei einer Morgendämmerung. Wie magische kleine Sternenlichter in seiner Mitte erscheinen die Glühwürmchen.

Allmählich schwenkt die Kamera nach oben, und die Sonne wandert ins Bild.

Das, was man gesehen hat, entspricht den Worten des blinden Mannes, der eine Sonnenfinsternis durch ganz andere Sinne als das Sehen wahrnahm.

IT ist eine Offenbarung des Lichts, wie ein sehr poetischer und zarter Moment.

FORUM EXPANDED

49.

PROGRAMM VII:

THE INVISIBLE HANDS

(Griechenland, Ägypten, R.: Marina Gioti, Georges Salameh)

Im Jahre 2011 kam der Musiker Alan Bishop in Kairo an, kurz nach dem arabischen Frühling von 2011, um dort mit jungen Musikern zu arbeiten und seine alten Songs ins Arabische zu übertragen. Eine neue Band entsteht, die INVISIBLE HANDS.

Die Übersetzungsarbeit des Musikers mit den drei Ägyptern in Kairo resultiert in notwendigen inhaltlichen Veränderungen der Texte, die die Lebensumstände und das Zeitgeschehen berücksichtigt.

Die Zustände in Ägypten verbessern sich währenddessen keineswegs, es spielt sich eine politische Tragikomödie ab, die auch Auswirkungen auf Alan Bishops Existenz hat.

So entsteht über die Jahre hinweg ein Dokumentarfilm über die Rolle der Musik und der Kunst inmitten eines totalen gesellschaftlichen Chaos.

Die Band THE INVISIBLE HANDS tritt im Rahmen des FORUM EXPANDED auch live auf, und zwar am 20. Februar im SILENT GREEN KULTURQUARTIER.