Mittwoch, 21.2. – Tag 7 – Daniel

GENERATION

50.

LOS BANDO

(Schweden/Norwegen, R.: Christian Lo)

Grim und Axel, beste Freunde seit den Sandkastentagen, träumen davon, mit ihrer Band „Los Bando Immortale‘“ bei dem norwegischen Rock-Championship-Wettbewerb durchzustarten. Dass Axel nicht singen kann, traute sich Grim ihm noch nicht zu sagen. Mit Thilda, einer neunjährigen Ausreißerin, die in der Band das Cello spielen wird, und Martin, einem siebzehnjährigen Rallyefahrer, der noch keinen Führerschein hat, starten sie im gelben Tournee-Camper einen turbulenten musikalischen Roadtrip in den Norden. Der Glaube an die Kraft der Musik hilft den eigentlich einsamen oder traurigen Kindern, ihren Traum zu verwirklichen, das Glück zu finden aber auch sich von Illusionen zu verabschieden. Dazu kommen dann die herrlichen Landschaften Schwedens und Norwegens, eine umwerfend komische Befreiung Thildas im Cellokasten aus dem Polizeipräsidium, ein „Cannonball-Run“-artiger Showdown mit Autoverfolgungsjagd und ein energetischer Soundtrack mit Musik von den Hellacopters und Motorpsycho. Tut der Seele ganz gut, den Film zu sehen.

PANORAMA

51.

MARILYN

(Argentinien, R.: Martin Rodriguez Redondo)

Im ländlichen Argentinien ist das Leben des jungen Marcos von der Ereignislosigkeit des Alltags und der Arbeit auf der Farm bestimmt. Der jährliche Karneval und der unerwartete Umzug der Familie sollen Marcos‘ Leben jedoch dramatisch verändern. Der Kontrast zwischen der Trostlosigkeit der eigenen Existenz und den immer unerreichbar werdenden Träumen von einem besseren Leben steigert sich mehr und mehr, dem Transgender-Coming-Out stehen die harte Gangart der Mutter und des homophoben Bruder gegenüber. Die letzte Konsequenz des Jungen ist trotz ihrer Radikalität der einzig logische Schluss.

PERSPEKTIVE DEUTSCHES KINO

52.

WHATEVER HAPPENS NEXT

(D., R.: Julian Pörksen)

Ein Aussteiger, der sich ganz dem Zufall im Hier und Jetzt überlässt. Und ein Roadmovie, das zum ebenso komischen wie melancholischen Streifzug durch unsere Gesellschaft wird mit einer von schönen, dubiosen und verirrten Charakteren bevölkerte Welt.

Paul Zeise wird inzwischen auch gesucht von seiner Ehefrau Luise und dem Privatdetektiv Ulrich, den sie auf die Suche nach ihrem Mann schickt. Mittlerweile jedoch wird auf seinem Weg ein hübsches Mädchen zu seiner Begleiterin, Nele, die auch ihre psychischen Probleme hat, in die er sich aber trotzdem verliebt.

Die märchenhafte Story von Paul, Nele, Luise und Ulrich mit vielen wunderschönen Bildern und all den zusätzlichen skurrilen Charakteren erscheint einem wie eine Mischung aus Wim Wenders und Aki Kaurismäki.

Wie weit kann ein Mensch im Leben kommen, wenn er sich ganz und gar seinem Wunsch nach Freiheit hingeben will?

53.

LUZ
(D., R.: Tilmann Singer)
Ein unheimlicher Mystery-Thriller mit Elementen von Horror, Erotik und Science Fiction.
Luz, eine junge Taxifahrerin, schleppt sich durch die erleuchtete Tür einer heruntergekommenen Polizeidienststelle. Ein Dämon ist ihr auf den Fersen, fest entschlossen, mit seiner Geliebten vereint zu sein. Mehrmals wechselt er den Körper, bis er im Körper des Psychologen Dr. Rossini in der Lage ist, in ihre Nähe zu gelangen.
Die Geschichte wird auf mehreren Erzählebenen geschildert, dies wird durch voneinander abweichende Ton- und Bildspuren realisiert, so zum Beispiel in der eindrucksvollen Szene, in der der Psychologe Rossini das Mädchen Luz in Hypnose versetzt.
Das Wesen des Dämons bleibt ein Rätsel.
Zu einem bestimmten Zeitpunkt fällt der Schlüsselsatz „Es begann mit seiner Erfindung.“ Die Uneindeutigkeit der Aussage macht für die Spannung einen großen Reiz aus. Wurde der Dämon erfunden? Oder ist der Dämon der Erfinder?
Wir erfahren nichts weiteres über die Ursprünge des Bösen, nur dass der Dämon am Schluss vereint ist mit dem Mädchen Luz, dem Objekt seiner Begierde. Ein verzweifelter Schrei am Telefon, man dürfe Luz nicht hinauslassen aus dem Polizeigebäude in die Freiheit, verhallt ungehört.
Gelegentlich gerät LUZ allzu trashig mit Schauereffekten à la komplett schwarzen Augen der Verteufelten, aber vielleicht ist das bei diesem Genre ja ein durchaus angemessenes Qualitätsniveau.

PANORAMA DOKUMENTE

54.

O PROCESSO

(Brasilien, R.: Maria Ramos)

Ein gelungener Themenabend auf ARTE könnte uns bevorstehen – zum Thema „Korruption in der brasilianischen Regierung“. Aber zunächst ist es noch ein gelungener Festivalbeitrag.

Ein wahres Justizdrama mit großer Fallhöhe – die Amtsenthebung der brasilianischen Präsidentin Dilma Rousseff. Ein Blick hinter die Kulissen des Prozesses, von den Strategien der Verteidigung bis zu den Tränen der Anklage beim Plädoyer.

Die Gesetzeslage ist vertrackt – und schon bald wird klar, dass der Untersuchungsausschuss sein Urteil schon vor Beginn der Untersuchung gefällt hat.

Die Frage ist, ob einige der Dokumentaraufnahmen vielleicht etwas gekürzt hätten werden müssen. Aber vielleicht war es doch nötig, die abschließenden Plädoyers in voller Länge zu hören.

Ein trauriger Moment in Brasiliens Geschichte, vor allem im Hinblick auf die nachfolgende jetzige Regierung, die noch viel korrupter ist.
(Anmerkung: O PROCESSO wurde übrigens vom World Cinema Fund gefördert. Der WCF ist ein Projekt der Berlinale und der Kulturstiftung des Bundes, das sich für die Entwicklung und Förderung des Kinos in film-infrastrukturell schwachen Regionen und für kulturelle Vielfalt in den deutschen Kinos engagiert)

FORUM

55.

NOTES ON AN APPEARANCE

(USA, R.: Ricky D’Ambrose)

Eines Tages taucht David nicht mehr auf. Seine Freunde suchen ihn in Brooklyn. Vor seinem Verschwinden katalogisierte er den Nachlass eines dubiosen Philosophen, der umstritten war wegen seiner radikalen Ansichten und Gedanken.

Das Verschwinden Davids hinterlässt auch eine Lücke in der Erzählstruktur, die nicht mehr aufgefüllt wird. Es ist faszinierend mit anzusehen, wie statt einer Handlung eine Leere ins Bild auftritt. Aufnahmen von Straßenkarten, Nahaufnahmen aus der Schräge auf eine Kaffeetasse herab im Café, spärlichste Aufzeichnungen aus Davids Ausgabenbuch. Statements von Nebenfiguren, die im Close-Up vor einfarbigen Hintergründen sprechen.

Diskussionen zwischen Studenten um akademische Probleme irrelevanter Natur. Der Freund Davids, der plötzlich unerklärlicherweise in Tränen ausbricht. Hat er mehr mit dem Verschwinden zu tun als er bislang wahrhaben wollte?

Ein kleiner faszinierender Film, der uns zwei Geschichten erzählt – von denen wir die eine nicht zu sehen bekommen.

FORUM EXPANDED

56.

AN UNTIMELY FILM FOR EVERY ONE AND NO ONE

(zu deutsch „Ein unzeitgemäßer Film für jeden und niemanden“)

Die Filmemacherin Ayreen Anastas beleuchtet ihre zehn Jahre alte Filmdokumentationen von Reisen durch Syrien, Algerien, Ägypten, Jordan, Libanon und andere orientalische Länder noch ein zweites Mal aus dem Blickwinkel der Gegenwart.

Das ursprünglich gedrehte Material sollte Friedrich Nietzsches „Also Sprach Zarathustra“ in den gegenwärtigen orientalischen Kontext einbetten, doch die enormen Veränderungen in diesen Ländern seitdem, die in noch mehr Chaos und Tumult resultierten, bewogen Ayreen Anastas, ihren Film in einen anderen Rahmen außerhalb der Zeit zu stellen, nicht mehr abhängig von Geschmack und Erwartung des Zeitgeistes – gerade so wie sich Nietzsche das Konzept „unzeitgemäß“ vorstellte.

In einer Musik- und Textperformance zusammen mit dem Philosophen Jean-Luc Nancy setzt Ayreen Anasta sich nun statt dessen mit den grundlegenden Fragen des Lebens, der Kunst und des Geistes auseinander.

Fragen der Religion und Kultur werden neu interpretiert, die begleitende Musik entsteht zeitgleich bei dem Gespräch. Die besondere Pointe ist eine einzigartige Kombination verschiedener Formen der erzählenden Zeit: Der ganze Film, der in Saal Eins des Kino Arsenal läuft, ist eine Kombination aus den zehn Jahre alten Filmdokumenten und der Musik- und Sprachperformance, welche während der Vorführung in Echtzeit im Kinosaal Zwei live inszeniert wird. Ein aufregender Schritt im experimentellen Kino.