Sonntag, 18.2. – Tag 4 – Daniel

BERLINALE SHORTS

24.

Programm III: Vom Rausch des Lebens

THE MEN BEHIND THE WALL

(Israel, R.: Ines Moldavsky)

Per Smartphone machen ein Mann und eine Frau was klar.

Die Regisseurin Ines aus Tel Aviv interessiert sich für die Männer aus dem Westjordanland. Via Datingplattformen treffen sie sich. Das Thema ist – wieder einmal – das Überschreiten von Grenzen…

Nachtrag: Der Film gewann den „Goldenen Bären“ der Internationalen Kurzfilm-Jury.

T.R.A.P

(Argentinien, R.: Manque La Banca)

Das Boot von drei mittelalterlichen Rittern strandet im blauen Zwielicht am Ufer des Río De La Plata. Der Anführer ist eine Frau. Die Suche beginnt – im Sumpf flickert der Film heftig. Sie suchen ein Grab, an dem sie ein Ritual durchführen müssen: Sie haben zu dritt Sex auf dem Grab. Das Versprechen ist erfüllt. Dann die unerwartete Wendung. Sie finden ein Auto, legen ihre Kettenhemden ab und schauen sich den Sonnenuntergang an, während sie Bier trinken und dem Radio zuhören.

Ein schönes Juwel.

Nachtrag: Der Film erhielt eine TEDDY-Award-Nominierung für den besten Kurzfilm.

BESIDA

(Nigeria, R.: Chuko Esiri)

Und wieder die Eingeborenen im Dschungel und ein Dort, diesmal im Süden Nigerias. „Als ich dich brauchte, warst du nicht da? Was willst du jetzt?“, sagt die Schwester zum Bruder. Ein kleines Dorf: Die Autos halten nur, um die jungen Frauen in die Stadt zu bringen. „Du warst doch selbst da„, sagt sie. „Deswegen ja„, sagt er. „Geh nicht.“

Das Drama der Frauen auf dieser Welt hat gerade erst begonnen.

WISHING WELL

(D, R.: Sylvia Schedelbauer)

Ein flimmerndes Bild mit Waldfluss. In die poetische Waldszenerie wird ein zweites Bild eingeblendet: Schemenhaft sieht man einen Jungen, der läuft, die Hand ausstreckt nach etwas Undefinierbaren.

The very cave you are afraid to enter turns out to be the source of what you are looking for.“ So lautet ein Aphorismus von Joseph Campbell. Die Musik zu den lyrischen und zarten Bildern stammt von Jeff Surak.

THE SHADOW OF UTOPIA

(Österreich, R.: Antoinette Zwirchmayr)

Nahaufnahmen von Schmuck, Bauchtanzoptik. schöne Dinge werden aufgezählt, mystisch anmutende Frauengestalten stehen – beinahe regungslos – am Strand. Edelsteine – und das, was der Schmuck darstellt. Delphine zum Beispiel.

The Shadow of Utopia ist der dritte Teil der Trilogie „What I remember“. Die Regisseurin inszeniert ihre eigene Familiengeschichte in fragmentarischen Bildern. Brasilien im Spiegel der Erinnerung.

PANORAMA SPECIAL

25.

L’ANIMALE

(Ö., R.: Katharina Mueckstein, D: Sophie Stockinger, Kathrin Resetarits, Dominik Warta u.a.)

Kurz vor dem Schulabschluss und dem Studium in Wien ändern sich in der Welt der jungen Mati noch einmal die Vorzeichen. Freundschaft und Liebe müssen in ihrer Jungsclique plötzlich neu verhandelt werden, als sich der beste Kumpel Matis plötzlich in sie verliebt und sich ihr „Best-Friends-Forever“-Status plötzlich in Matis Widerstand gegen Sebastians animalische Gelüste auflöst.

Doch auch in Mati brechen neue Empfindungen auf, als sie die selbstbestimmte Carla kennenlernt, die ihr zeigt, wie es sein könnte, wenn Mati selber plötzlich ein lebendiger und offener Mensch wäre. Die bisherige Tagesordnung mit den James-Dean-artigen Moped- oder Disco-Exzessen mit gelegentlichen Handgreiflichkeiten offenbart ihren Charakter der starren Leblosigkeit, mit der nur die eigenen Unsicherheiten – und das ANIMALISCHE im Menschen – übertüncht werden.

Währenddessen stolpern Matis Eltern über die eigenen Lügen. Der Vater Paul verbirgt seine homosexuellen Neigungen vor seiner Frau und vor der Gesellschaft, doch Gabriela kommt seinem Geheimnis auf die Spur.

Im Deutschunterricht wird das Gedicht „Selige Sehnsucht“ von Goethe analysiert. Soll die Dichtung auch das Leben von Mati bessern? Bei der Abschlussprüfung jedoch schreibt sie kurzerhand entschlossen ihren Text und gibt dann ihr Blatt ab – lange vor den anderen, wie das Sinnbild ihrer gewonnenen Entschlusskraft.

Die Eltern hingegen können aus ihrem Kreislauf nicht mehr ausbrechen. Das Animalische in ihnen, das sich nach Ausdruck sehnt, bleibt nunmehr verborgen unter der Oberfläche der zivilisierten Bürgerlichkeit.

Man wünscht den beiden also nur: noch mehr LEBEN / VERÄNDERUNG bitte für die Zukunft, bitte noch mehr ANIMA.

PANORAMA

26.

MES PROVINCIALES (A Paris Education)

(Frankreich, R: Jean-Paul Civeyrac, D: Adranic Manet, Gonzague van Bervesseles, Corentin Fila)

Drei Filmstudenten aus der französischen Provinz und ihre ersten Erfahrungen mit der Kunst und dem Leben. Eine zärtliche schwarz-weiße Studie über Leidenschaften, Irrtümer und Tragödien der Jugend und eine melancholische Liebeserklärung ans klassische Kino und an Paris.

Mit all den freundschaftlichen Verwicklungen, amoureusen Episoden und den Auseinandersetzungen um Liebe, Filmkunst, Politik, Literatur und Freundschaft wird doch vor allem eines – mit Leidenschaft geredet.

Und damit ist MES PROVINCIALES definitiv der französischste Film auf der diesjährigen Berlinale. Nicht nur für cineastische Neulinge auf diesem Gebiet sicherlich eine Bereicherung.

PERSPEKTIVE DEUTSCHES KINO

27.

DIE DEFEKTE KATZE

(D., R: Susan Gordanshekan)

„Die Defekte Katze“ ist eine umgekehrt verlaufende Liebesgeschichte. Zwei Fremde gehen eine traditionell geschlossene Ehe ein, wie es in der iranischen Kultur üblich ist, dafür reist Mina aus dem Iran nach Deutschland zu Kian.

Den Defekt haben nicht nur die Gene der Katze, die Mina im Laufe der Handlung mit nach Hause bringt, defekt ist vor allem die Beziehung zwischen ihr und ihrem Mann Kian.

Mühsam arrangieren sie sich miteinander, finden aber trotzdem nicht zusammen – bis sie sich zum Schluss trotzdem neu kennenlernen. Dazwischen finden sich Traumszenen von Begegnungen, die ganz unter Wasser spielen.

Arrangierte Hochzeiten sind keine gute Angelegenheit, auch wenn die Musik gut ist, immerhin tanzt die sich einsam fühlende Protagonistin Mina in den Diskotheken der Stadt zu den Klängen des Labels Kreismusik.

FORUM

28.

DJAMILIA (Jamila)

(Frankreich, R.: Aminatou Echard)

Super 8 ist ein wunderschönes Format, die Bilder von kirgisischen Sommerlandschaften und den schönen Portraitaufnahmen alter und junger Frauen geraten in der pointilistisch anmutenden Super-8-Optik zu einem geradezu impressionistischen Kunstwerk.

Tschingis Aitmatovs Novelle „Dshamilja“ beeindruckte Generationen kirgisischer Frauen: Dshamilja – eine junge Frau, die sich gegen alle gesellschaftlichen Konventionen auflehnt und schließlich ihrem Geliebten folgt.

Behutsam befragt der Debütfilm Echards heutige Biografien und zeigt, wie aktuell die Konflikte, Sehnsüchte und Wünsche nach Selbstbestimmung noch immer sind.

Neben den Bildern beeindrucken auch die fremdartigen Stimmen, wie sie die Geschichte der Romanfigur Dshamilja nacherzählen und ihre Bedeutung für sich interpretieren. Der Weg der Frauen in ein modernes Leben in Freiheit ist auch heute kein leichter.

BERLINALE SHORTS

29.

Programm V: Step Across the Yesterday

LE TIGRE DE TASMANIE

(Frankreich, R.: Vergine Keaton)

Einer der letzten tasmanischen Tiger dreht seine Runden im Zoo. Diese Filmaufnahmen stammen aus der Stummfilmzeit – inzwischen ist er ausgestorben. Dazu sieht man die zeitrafferartigen Erosionen der Erdzeitalter und explodierende Berge, diese sind computergenerierte Animationen. Die Natur ermächtigt sich ihrer Kraft und begräbt alles unter sich. In der Auslöschung des Alten liegt der Anfang für etwas Neues.

All unsere Materie wird sich dereinst auflösen und die Partikel sich im All verteilen. Bis dahin wollen wir an ihn denken, den letzten tasmanischen Tiger.

IMFURA

(Schweiz / Ruanda, R: Samuel Ishimwe)

Ein weiterer Film zu Ethnologie und Postkolonialismus, diesmal in Ruanda spielend.

In Imfura reist der junge Mann zurück in das Dorf seiner Familie in Ruanda. Das Haus seiner 1994 im Tutsi-Genozid verstorbenen Mutter ist Ausgangspunkt für eine Reise in die Vergangenheit mit der Gegenwart vor Augen.

Zwei Brüder lernen sich neu kennen. Ein Konflikttreffen im Dorf wird zum Austragungsort eines gesellschaftlichen Konflikts zwischen Modernisierung, Religion und Tradition. Bei diesem Film vermisse ich ausnahmsweise einen Schluss. Das Ende ist allzu offen.

Nachtrag: IMFURA gewann den „Silbernen Bären“ der Internationalen Kurzfilm-Jury.

ONDE O VERAO VAI (Episódios da juventude)

(Portugal, R.: David Pinheiro Vicente)

In Onde o Verão Vai (episódios da juventude) inszeniert der portugiesische Regisseur David Pinheiro Vicente einen queeren Auszug aus dem Paradies und stellt somit die Frage nach dem Anfang neu.

Die ersten Menschen sind diesmal bereits zu fünft unterwegs im Auto ins Paradies, dort formieren sich klassische aber auch neuartige Beziehungsmuster. Die Sinnlichkeit des Apfels tritt in Erscheinung.

Und der Name der wunderschönen orangefarbenen Schlange, mit der Adam und Eva eine in ihrer Zärtlichkeit geradezu rührende Begegnung haben, ist übrigens Frida.

WHILE I YET LIVE

(USA, R.: Maris Curran)

Eine ländliche Gemeinschaft in den USA, noch ferner kann man der Zivilisation nicht sein. Hier, scheinbar am Ende des Universums, leben einige uralte afroamerikanische Damen, die einstmals Weltstars im Kunstbetrieb waren – damals, als gerade der Quilt-Hype angesagt war.

Die fünf „Quiltmacherinnen“ aus Gee’s Bend, Alabama, sprechen über Liebe, Religion und den Kampf um Bürgerrechte, während sie die Tradition des Quiltnähens fortführen.

Ein eindrucksvolles Portrait in stimmungsvoller Atmosphäre.

PANORAMA

30.

TINTA BRUTA (Hard Paint)

(Brasilien, R.: Marcio Reolon und Filipe Matzembacher)

Pedro ist jung, schwul und verdient sein Geld als Performer in Chatrooms. Als NeonBoy bemalt er seinen nackten Körper und tanzt illuminiert im UV-Licht. Doch dann kopiert jemand anders in der Stadt sein Konzept.

Ereignisse treten in Gang, um Pedro mit dem nie verarbeiteten Trauma einer Missbrauchserfahrung im Kindesalter zu konfrontieren und ihn von seiner unendlichen Angst vor anderen Menschen zu befreien.

Ein ebenso sinnlicher wie sozialkritischer Film, für mich einer der Höhepunkte des PANORAMA in diesem Jahr.

Nachtrag vom 25.02.2018:
Der Film ist – verdientermaßen – Gewinner des TEDDY-Awards!
Außerdem gewann TINTA BRUTA den CICAE ART CINEMA Award.

FORUM

31.

GUSHING PRAYER

(Japan 1971, R.: Masao Adachi, D: Yuji Aoki, Makiko Kim, Shigenori Noda, Hiroshi Saito)

Anfang der Siebziger Jahre wehte der Geist der sexuellen Revolution und der Loslösung vom Establishment auch nach Japan. Regisseur Masao Adachi schuf 1971 den Film, der das Sprachrohr dieser Generation in Japan sein sollte. Vier Jugendliche setzen sich den Konventionen der moralisch korrumpierten Gesellschaft entgegen, indem sie sich statdessen hemmungslosem Gruppensex hingeben.

Doch nachdem die Schülerin Yasuko eine Affäre mit ihrem Lehrer hatte, gilt sie bei den anderen als Prostituierte. Sex wird für sie zum Geschäft ohne Vergnügen. Und so begibt sie sich auf eine Odyssee der Selbsterkundung, um ihre eigenen Grenzen auszuloten.

Zusätzlich zur Geschichte sind Stimmen vom Tonband vernehmbar, die uns aus authentischen Selbstmörderbriefen vorlesen, dazu hört man die Musik von Masato Minami (dessen Stück „It Can’t Be Over“ ihr im Anschluss an diesen Beitrag hören könnt).

Nach dem Scheitern der Studentenbewegung entstand ein Vakuum, dessen Leere hier eindrucksvoll geschildert wird. Und die japanische Jugend der Siebziger ist in Schwarz-Weiß besonders hübsch anzusehen.

Der Film wird im Rahmen des Sonderprogramms „A Pink Tribute to Keiko Sato“ gezeigt. Keiko Sato ist eine der Produzentinnen der sog. „pinku eiga“, Filmen, die ein männliches Publikum mit erotischen Inhalten ansprechen sollten doch in den Siebziger Jahren sich in radikales avantgardistisches Kino verwandelten.

FORUM

32.

KAD BUDEM MRTAV I BEO (When I Am Dead and Pale)

(Jugoslawien, R.: Živojin Pavlović)

In diesem Schlüsselwerk der jugoslawischen „Schwarzen Welle“ will der draufgängerische Jimmy als Sänger ganz nach oben, Talent hin und her. Ein rebellischer Road- bzw. Railroadmovie voller Musik, der uns lebendige Charaktere zeigt und zugleich die quirligen, damals noch entstehenden Randbezirke Belgrads erkundet. Eindeutiger Höhepunkt ist der Pop&Rockwettbewerb am Schluss, bei dem sich die Leidenschaft der musikalischen Jugend Jugoslawiens für die zeitgenössische Beatmusik zeigt. Jimmy hingegen mit seinen sentimentalen Volksliedern und seiner schwachen Stimme geht kläglich unter. Doch das Ende Jimmys ist noch unrühmlicher – ein Showdown, der ihm keine Chance lässt wie bei einem Anti-Western. Zur Aufführung gelangt eine von der Jugoslovenska Kinoteka digital restaurierte Fassung.

FORUM EXPANDED

33.

Programm VI:

ARD AL MAHSHAR (Land of Doom)

(Libanon/Syrien, R.: Milad Arnin)

Lexikoneinträge zu Wut, Angst, Widerstand und Hoffnung werden kontrastiert mit dem Horror einer zerstörten Stadt – von Ost-Aleppo ist in den letzten Tagen seiner Belagerung kurz vor der Befreiung nicht mehr viel übrig…

Per Skype und Telefon begleitet der Filmemacher seinen Freund Ghith, einen Aktivisten und Photographen, durch die Ruinenlandschaft Aleppos. Die Übertragungen dokumentieren in sehr persönlicher Weise das Leiden der Bevölkerung in der Zeit von Belagerung, Hunger und Krieg.

TODAY IS 11TH JUNE 1993

(D./Bosnien und Herzegowina, R.: Clarissa Thieme)

Im Bosnienkrieg im Jahre 1993 drehte ein paar Jugendliche mit sehr schwarzem Humor einen Science-Fiction-Film, in dem sie einen Hilferuf in die Zukunft schicken, sie mögen gerettet werden, sobald die Zeitmaschine erfunden wird. Noch im Film taucht der Reisende aus der Zukunft auf und schickt den Hilferufer in die Zukunft, bleibt aber aus Versehen in der Gegenwart stecken und spricht nun die Videoaufzeichnung mit einem Hilferuf seinerseits zu Ende.

Dieser Experimentalfilm vom 11. Juni 1993 ist mittlerweile von der Filmemacherin Clarissa Thieme in einem Video-Archiv in Sarajevo gefunden worden, einer privaten Sammlung von Amateurvideodokumentationen aus dem Bosnienkrieg.

Die Filmemacherin übersetzt das Material und sendet mittels Simultanübersetzung den 25 Jahre alten Appell nunmehr erneut in die Gegenwart. Gefragt ist nun die Reaktion des Zuschauers.

AALA KAD AL SHAWK – LE VOYAGE IMMOBILE (As far as Yearnings)

(Libanon/Frankreich, R.: Ghassan Salhab/Mohamed Soueid)

Ein stiller, sehr ruhiger und dunkler Film, der an zwei Orten spielt, zum einen erneut in zerstörten und desolaten Gegenden im Nahen Osten, zum anderen aber auch in einer in der Nacht strahlend erleuchteten prächtigen Metropole.

Über die Entfernung sprechen zwei Cineasten, die einst zusammen die gleichen Sehnsüchte hatten und nun aber weit entfernt voneinander leben. Den Traum versuchen sie aufrecht zu erhalten, indem sie sich gegenseitig Nachrichten zuschicken mit Bildern, Tönen und Monologen.

Der multimediale Dialog ihrer Kommunikation bildet seinen eigenen Film, und ihre Seelen finden wieder zusammen. Zu zweit eins sein – zumindest im Film – ist das Ergebnis.

Die Musik stammt u.a. von Modeselektor.