Samstag, 24.2. – Tag 10 – Daniel

PERSPEKTIVE DEUTSCHES KINO

61.

FILMWANDERUNGEN

Diese Reihe von 31 Kurzfilmen ist ein Projekt, bei dem junge Filmemacher_innen 140 Anwohner rund um den Rosa-Luxemburg-Platz interviewten. Beim Betrachten treten wir eine Wanderung an durch Wohnungen, Räume und Lebenswelten wie auch durch Geschichte und Gegenwart.

In Gesprächen mit Menschen, die hier schon sehr lange oder erst seit kurzem leben, werden die Grenzen zwischen den Generationen und den Lebensstilen sichtbar, das Spektrum reicht von der Erinnerung an das Leben in der DDR bis zur Modedesignerin aus den USA im (gentrifizierten) Berliner Exil – doch die Kluft zwischen ihnen könnte vielleicht auch überbrückt werden durch die Kontrastierung der Gegensätze gerade in diesen Kurzfilmen.

Ein kleiner Kiez kann dabei über seinen eigenen Tellerrand sehen und seine Vielfalt entdecken.

Am 24.2. und am 25.2. wurde eine Schar von 70 Zuschauern aus dem Publikum (die sich vorher dafür hatten bewerben können), rund um den Rosa-Luxemburg-Platz geführt, wo sie die interviewten Anwohner besuchen konnten, um mit ihnen deren Filme zusammen anzusehen. Die Grenze zwischen Wirklichkeit und Film löste sich auf.

PANORAMA

62.

RIVER‘S EDGE

(Japan, R.: Isao Yukisada – und damit schon zum vierten Mal zu Gast beim PANORAMA)

Tokio 1994. In einem Videointerview redet Haruna Wakakusa, eine junge Frau, über die Bedeutung eines Teddybären. Kurz darauf stürzt in der Nacht ein brennendes Objekt aus einem Hochhaus. Ein gefesselter, nackter junger Mann fällt aus einem Spind. Zwei Fischer reden über einen Wassergeist. In Isao Yukisadas außergewöhnlichem Drama RIVER’S EDGE werden viele Fährten gelegt und die Wechsel zwischen den Erzählsträngen sind so sprunghaft und unberechenbar wie die Figuren: Ichiro Yamada ist schwul und Opfer der Gewalt seiner Mitschüler, zieht aber Stärke aus seinen Blessuren. Dass er auch eine Freundin hat, stört ihn allerdings nicht – noch nicht zumindest. An einem nahe gelegenen industrieverseuchten Fluss macht er einen grausigen Fund und zeigt ihn seiner besten Freundin Haruna. Deren Freund Kannonzaki indes liebt brutalen Sex und überschreitet dabei immer weitere Grenzen, allerdings nicht mit Haruna, sondern mit ihrer Freundin Rumi, die er schwängert. Rumis Schwester wiederum, ein in sich zurückgezogenes Mädchen mit Down-Syndrom, liest obsessiv in den Rumis Tagebüchern. Das bulimische Model Kozue vergräbt sich nachts in Bergen aus Essen und flirtet mit Haruna, doch diese wirkt fern ihrer selbst, fern des Lebens. Alle diese und andere Geschichten werden virtuos zum atemlosen Sittengemälde einer getriebenen, scheinbar verlorenen Jugend montiert, wobei die Begegnungen mit Gewalt unabdingbar scheinen. Die Auflösung um das brennende Objekt erlöst zumindest diejenigen, die im Jahr 2018 nicht länger den schwulen Charakter am Schluss sterben sehen wollen.
Im zweiten Video-Interview mit Wakakusa blickt diese betroffen auf ihr bislang teilnahmsloses Dasein einer rein passiven Existenz zurück und beschließt, dass sie leben und weinen und über das Verletztwerden hinwegkommen wird, um schließlich weiter ihren Weg zu gehen. Mit dieser schönen Klammer hätte der Film gut enden können, doch wir blicken noch mit Ichiro Yamada auf den Fluss und die Fabrikanlagen am Ufer in der Morgendämmerung. So ist eben der Unterschied zwischen unseren Zielen und der Realität.

Nachtrag: RIVER’S EDGE gewann den FIPRESCI-Preis für die Sektion PANORAMA.

Und das war mein letzter Film auf der diesjährigen Berlinale. Die Spätvorstellung von SANTO VS. EVIL BRAIN gönne ich mir nicht mehr, da ich schon längst wie erschlagen und nicht mehr aufnahmewillig bin. Statt dessen kuriere ich zu Hause meinen sich ankündigenden Hexenschuss aus, vielleicht mit einem der vielen Filme mit Willem Dafoe in der Reihe HOMMAGE, die ich leider nicht sehen konnte, z.B. THE LAST TEMPTATION OF CHRIST, DER ANTICHRIST oder DIE TIEFSEETAUCHER.

moi im Delphi

Der Delphi Filmpalast ist eines der schönsten Lichtspielhäuser Berlins.

PS: Eventuell wundert sich jemand von euch darüber, wie ich es schaffen konnte, so viele Filme innerhalb von zehn Tagen anzusehen, aber ich schrieb natürlich auch über die Filme, die ich bereits vorab in den Pressevorführungen im Januar gesehen habe. Selbstverständlich habe ich hierbei das Embargo berücksichtigt, dass man bis nach der Premiere warten musste mit der Veröffentlichung der Filmkritik.

Und zum Abschluss hier noch ein Link zu meiner Homepage:
Aktuelle Radio-Interviews und Filmberichte von der Berlinale 2018

Freitag, 23.2. – Tag 9 – Daniel

FORUM

58.

INFLATABLE SEX DOLL OF THE WASTELAND

(Japan, R.: Atsushi Yamatoya)

Der Auftragskiller Sho wird mit der Suche nach der einer entführten Frau beauftragt und trifft im Laufe dieses visuell beeindruckenden Filmes auf einen alten Feind. Ein fragmentierter surrealer pinku eiga, der von der Flexibilität des Genres zeigt. Die japanische Nouvelle Vague par excellance. Der Held Sho schläft allerdings im entscheidenden Moment ein. Der furiose Showdown, in dem er alle seine Gegner besiegt, ist nur ein Traum, das Erwachen aus diesem ist umso fataler. Eddie Constantine wäre das nicht passiert.

59.

YOURS IN SISTERHOOD

(USA, R.: Irene Lusztig)

Frauen unterschiedlicher Hintergründe und Herkunft lesen und kommentieren Briefe, die in den Siebziger Jahren an das liberal-feministische Magazin „Ms.“ gingen. Ein reicher Fundus in vielschichtiger Beziehung mit der Gegenwart und deren Kontinuitäten. Besonders eindrucksvoll waren die Briefe, die von den selben Frauen vorgelesen wurden, welche die Briefe damals geschrieben hatten. Diskriminierung im Beruf, Widerstand gegen allzu dogmatisches Schwarz-Weiß-Denken im Feminismus, die Probleme junger Lesben beim Coming Out. Vieles hat sich verbessert, manches ist noch genauso schlimm wie früher, wie zum Beispiel die Zustände in einem Frauengefängnis.

Nachtrag: Der Film erhielt eine Nominierung als bester Dokumentarfilm für den TEDDY-Award.

PANORAMA

60.

HOJOOM

(Iran, R.: Shahram Mokri)

Ein spannender und rätselhafter Science-Fiction-Film. In einer Art Stadion-Anlage rekonstruiert die Polizei zusammen mit einer Sport-Mannschaft den Mord an einem ihrer Spieler. Eigenartige Verfremdungseffekte treten ein: Das Berlinale-Programmheft spricht von einer „Zeitschleife„. Wenn man es genau nimmt, handelt es sich keineswegs um eine Zeitschleife, denn es wiederholt sich nichts. Wir folgen der Hauptfigur Ali – wie es scheint, in einer einzigen, einhundert Minuten langen Einstellung – durch ein seltsames Labyrinth in einer futuristischen Düsterwelt, die erfüllt ist von einem eigentümlichen grünen Nebel (mit dem Guy Maddin aber nichts zu tun hat, vermutlich), und erleben Variationen von Situationen und Handlungselementen, die vorangegangenen ähneln, diesen aber nicht entsprechen. Zum Beispiel schlüpfen in den ineinander spielenden Variationen mehrmals eine Reihe anderer der Spieler in die Rolle von Ali, um jene Sätze und Taten zu wiederholen, die er als erster gesagt, erlebt und getan hat. So ist der Hauptprotagonist quasi die Speerspitze des Narrativs. Gleichzeitig handelt es sich um einen einzigen eigenen Handlungsstrang, in dem ständig etwas Neues passiert. Das, was sich wiederholt, liegt schon lange hinter Ali und hat nur noch bedingt mit ihm zu tun. Die Zwillingsschwester des Ermordeten wird zu einer weiteren Schlüsselfigur mit immer neuen Bedeutungsfacetten. „Potentiality of Love“ lautet ein Song in einem Walkman, der eine Rolle spielen soll, doch dann wird daraus die Botschaft aus der Parallelwelt, zu der alle hingelangen wollen.

In diesem Sinne ist HOJOOM auch eine Allegorie auf die gegenwärtige Situation homosexueller Menschen im Iran. Dort steht Homosexualität unter Todesstrafe. Einen Film über Homosexualität oder schwule Charaktere konnte Shahram Mokri also nur drehen, indem er ihn in einer surrealen Zukunftswelt spielen ließ und das Thema nicht explizit (in Worten) anspricht. Die Körpersprache der Spieler jedoch in ihrem Umgang miteinander (und deren gemeinsames Spiral-Tattoo, das in einem Herzen endet) sowie die Statements von Ali, er habe den Ermordeten geliebt wie keinen anderen Menschen, sprechen eine andere Sprache.

Ein Film, den ich mir immer wieder gerne ansehen würde, nicht zuletzt um hoffentlich irgendwann einmal alles verstanden zu haben. Und bereits der zweite Beitrag aus dem Iran, der die Qualität der Berliner Filmfestspiele gerettet hat.

Donnerstag, 22.2. – Tag 8 – Daniel

FORUM EXPANDED:

57.

ESCAPE FROM RENTED ISLAND – THE LOST FILMS OF JACK SMITH

Every time I see glitter makeup, a part of my soul dies.“ – Jack Smith

Im Laufe der letzten Jahre und Jahrzehnte sind viele Filme über den New Yorker Underground-Filmemacher Jack Smith und posthume Ur- oder Neuaufführungen einiger seiner exzentrischen Super-8- oder Videofilme auf der Berlinale gelaufen. Um so lobender muss man diesen herausragenden nicht dokumentarischen Film-Essay erwähnen. ESCAPE FROM RENTED ISLAND behandelt das Werk und die Ästhetik von Jack Smith, der leider schon 1989 starb, in umfassender Weise. Der Film „FLAMING CREATURES“ von 1963 ist sein bekanntestes Werk. In ESCAPE FROM RENTED ISLAND wird nun unbekanntes oder unveröffentlichtes Filmmaterial aus drei Jahrzehnten mit Tonaufnahmen, Statements und Musik aus seiner umfangreichen Exotica-Plattensammlung präsentiert. Die skurrilen und wilden Exzesse, die Jack Smith hier inszeniert und auf Celluloid gebannt hat, atmen den Geist einer anderen Zeit der Freiheit der Kunst. Unvorstellbare Drag-Kostüme, Perücken und Make-Up mit Glitter vermischen sich hier mit esoterischen Homo-SM-Sex-Tanz-Art-Happening-Ritualen der unbekannten Art, und dazu feiert La Penguina, ein Stoffpinguin mit applizierten Glitzerbrüsten und rotem Turban à la Maria Montez, ihre Parade durch Rom. Maria Montez übrigens, die als „Queen of Technicolor“ bekannte Film-Diva aus der Dominikanischen Republik, stand auch im Fokus von Jack Smith, sie war seine große Muse und zentrales Thema vieler seiner Arbeiten. Weitere Filmkapitel beleuchten den ‚Tanz respektabler Kreaturen im Schlamm‘, Art Happenings bei einer Kunstausstellung in Deutschland in den siebziger Jahren, den Tanz der blauen Kobrafrau mit der Mumie oder eine irrwitzige Hamlet-Inszenierung in Drag. Im Originalton hören wir dazu die Stimme von Jack Smith, wie er sich zum Beispiel über die Schublade mokiert, in die er unter dem Etikett „Underground“ gesteckt wurde (ganz so als ob man selber ja gar kein Geld verdienen oder nicht erfolgreich sein wolle). Und da wir dazu noch die Klänge von Les Baxter, Bas Sheva und Korla Pandit vernehmen dürfen, ist der Genuss vollkommen.

Und der Rest des Tages steht ausnahmsweise nicht im Zeichen der Berlinale, denn heute abend findet ja schließlich die deutsche Vorentscheidung zum Eurovision Song Contest statt, da läuft der Fernseher!

Mittwoch, 21.2. – Tag 7 – Daniel

GENERATION

50.

LOS BANDO

(Schweden/Norwegen, R.: Christian Lo)

Grim und Axel, beste Freunde seit den Sandkastentagen, träumen davon, mit ihrer Band „Los Bando Immortale‘“ bei dem norwegischen Rock-Championship-Wettbewerb durchzustarten. Dass Axel nicht singen kann, traute sich Grim ihm noch nicht zu sagen. Mit Thilda, einer neunjährigen Ausreißerin, die in der Band das Cello spielen wird, und Martin, einem siebzehnjährigen Rallyefahrer, der noch keinen Führerschein hat, starten sie im gelben Tournee-Camper einen turbulenten musikalischen Roadtrip in den Norden. Der Glaube an die Kraft der Musik hilft den eigentlich einsamen oder traurigen Kindern, ihren Traum zu verwirklichen, das Glück zu finden aber auch sich von Illusionen zu verabschieden. Dazu kommen dann die herrlichen Landschaften Schwedens und Norwegens, eine umwerfend komische Befreiung Thildas im Cellokasten aus dem Polizeipräsidium, ein „Cannonball-Run“-artiger Showdown mit Autoverfolgungsjagd und ein energetischer Soundtrack mit Musik von den Hellacopters und Motorpsycho. Tut der Seele ganz gut, den Film zu sehen.

PANORAMA

51.

MARILYN

(Argentinien, R.: Martin Rodriguez Redondo)

Im ländlichen Argentinien ist das Leben des jungen Marcos von der Ereignislosigkeit des Alltags und der Arbeit auf der Farm bestimmt. Der jährliche Karneval und der unerwartete Umzug der Familie sollen Marcos‘ Leben jedoch dramatisch verändern. Der Kontrast zwischen der Trostlosigkeit der eigenen Existenz und den immer unerreichbar werdenden Träumen von einem besseren Leben steigert sich mehr und mehr, dem Transgender-Coming-Out stehen die harte Gangart der Mutter und des homophoben Bruder gegenüber. Die letzte Konsequenz des Jungen ist trotz ihrer Radikalität der einzig logische Schluss.

PERSPEKTIVE DEUTSCHES KINO

52.

WHATEVER HAPPENS NEXT

(D., R.: Julian Pörksen)

Ein Aussteiger, der sich ganz dem Zufall im Hier und Jetzt überlässt. Und ein Roadmovie, das zum ebenso komischen wie melancholischen Streifzug durch unsere Gesellschaft wird mit einer von schönen, dubiosen und verirrten Charakteren bevölkerte Welt.

Paul Zeise wird inzwischen auch gesucht von seiner Ehefrau Luise und dem Privatdetektiv Ulrich, den sie auf die Suche nach ihrem Mann schickt. Mittlerweile jedoch wird auf seinem Weg ein hübsches Mädchen zu seiner Begleiterin, Nele, die auch ihre psychischen Probleme hat, in die er sich aber trotzdem verliebt.

Die märchenhafte Story von Paul, Nele, Luise und Ulrich mit vielen wunderschönen Bildern und all den zusätzlichen skurrilen Charakteren erscheint einem wie eine Mischung aus Wim Wenders und Aki Kaurismäki.

Wie weit kann ein Mensch im Leben kommen, wenn er sich ganz und gar seinem Wunsch nach Freiheit hingeben will?

53.

LUZ
(D., R.: Tilmann Singer)
Ein unheimlicher Mystery-Thriller mit Elementen von Horror, Erotik und Science Fiction.
Luz, eine junge Taxifahrerin, schleppt sich durch die erleuchtete Tür einer heruntergekommenen Polizeidienststelle. Ein Dämon ist ihr auf den Fersen, fest entschlossen, mit seiner Geliebten vereint zu sein. Mehrmals wechselt er den Körper, bis er im Körper des Psychologen Dr. Rossini in der Lage ist, in ihre Nähe zu gelangen.
Die Geschichte wird auf mehreren Erzählebenen geschildert, dies wird durch voneinander abweichende Ton- und Bildspuren realisiert, so zum Beispiel in der eindrucksvollen Szene, in der der Psychologe Rossini das Mädchen Luz in Hypnose versetzt.
Das Wesen des Dämons bleibt ein Rätsel.
Zu einem bestimmten Zeitpunkt fällt der Schlüsselsatz „Es begann mit seiner Erfindung.“ Die Uneindeutigkeit der Aussage macht für die Spannung einen großen Reiz aus. Wurde der Dämon erfunden? Oder ist der Dämon der Erfinder?
Wir erfahren nichts weiteres über die Ursprünge des Bösen, nur dass der Dämon am Schluss vereint ist mit dem Mädchen Luz, dem Objekt seiner Begierde. Ein verzweifelter Schrei am Telefon, man dürfe Luz nicht hinauslassen aus dem Polizeigebäude in die Freiheit, verhallt ungehört.
Gelegentlich gerät LUZ allzu trashig mit Schauereffekten à la komplett schwarzen Augen der Verteufelten, aber vielleicht ist das bei diesem Genre ja ein durchaus angemessenes Qualitätsniveau.

PANORAMA DOKUMENTE

54.

O PROCESSO

(Brasilien, R.: Maria Ramos)

Ein gelungener Themenabend auf ARTE könnte uns bevorstehen – zum Thema „Korruption in der brasilianischen Regierung“. Aber zunächst ist es noch ein gelungener Festivalbeitrag.

Ein wahres Justizdrama mit großer Fallhöhe – die Amtsenthebung der brasilianischen Präsidentin Dilma Rousseff. Ein Blick hinter die Kulissen des Prozesses, von den Strategien der Verteidigung bis zu den Tränen der Anklage beim Plädoyer.

Die Gesetzeslage ist vertrackt – und schon bald wird klar, dass der Untersuchungsausschuss sein Urteil schon vor Beginn der Untersuchung gefällt hat.

Die Frage ist, ob einige der Dokumentaraufnahmen vielleicht etwas gekürzt hätten werden müssen. Aber vielleicht war es doch nötig, die abschließenden Plädoyers in voller Länge zu hören.

Ein trauriger Moment in Brasiliens Geschichte, vor allem im Hinblick auf die nachfolgende jetzige Regierung, die noch viel korrupter ist.
(Anmerkung: O PROCESSO wurde übrigens vom World Cinema Fund gefördert. Der WCF ist ein Projekt der Berlinale und der Kulturstiftung des Bundes, das sich für die Entwicklung und Förderung des Kinos in film-infrastrukturell schwachen Regionen und für kulturelle Vielfalt in den deutschen Kinos engagiert)

FORUM

55.

NOTES ON AN APPEARANCE

(USA, R.: Ricky D’Ambrose)

Eines Tages taucht David nicht mehr auf. Seine Freunde suchen ihn in Brooklyn. Vor seinem Verschwinden katalogisierte er den Nachlass eines dubiosen Philosophen, der umstritten war wegen seiner radikalen Ansichten und Gedanken.

Das Verschwinden Davids hinterlässt auch eine Lücke in der Erzählstruktur, die nicht mehr aufgefüllt wird. Es ist faszinierend mit anzusehen, wie statt einer Handlung eine Leere ins Bild auftritt. Aufnahmen von Straßenkarten, Nahaufnahmen aus der Schräge auf eine Kaffeetasse herab im Café, spärlichste Aufzeichnungen aus Davids Ausgabenbuch. Statements von Nebenfiguren, die im Close-Up vor einfarbigen Hintergründen sprechen.

Diskussionen zwischen Studenten um akademische Probleme irrelevanter Natur. Der Freund Davids, der plötzlich unerklärlicherweise in Tränen ausbricht. Hat er mehr mit dem Verschwinden zu tun als er bislang wahrhaben wollte?

Ein kleiner faszinierender Film, der uns zwei Geschichten erzählt – von denen wir die eine nicht zu sehen bekommen.

FORUM EXPANDED

56.

AN UNTIMELY FILM FOR EVERY ONE AND NO ONE

(zu deutsch „Ein unzeitgemäßer Film für jeden und niemanden“)

Die Filmemacherin Ayreen Anastas beleuchtet ihre zehn Jahre alte Filmdokumentationen von Reisen durch Syrien, Algerien, Ägypten, Jordan, Libanon und andere orientalische Länder noch ein zweites Mal aus dem Blickwinkel der Gegenwart.

Das ursprünglich gedrehte Material sollte Friedrich Nietzsches „Also Sprach Zarathustra“ in den gegenwärtigen orientalischen Kontext einbetten, doch die enormen Veränderungen in diesen Ländern seitdem, die in noch mehr Chaos und Tumult resultierten, bewogen Ayreen Anastas, ihren Film in einen anderen Rahmen außerhalb der Zeit zu stellen, nicht mehr abhängig von Geschmack und Erwartung des Zeitgeistes – gerade so wie sich Nietzsche das Konzept „unzeitgemäß“ vorstellte.

In einer Musik- und Textperformance zusammen mit dem Philosophen Jean-Luc Nancy setzt Ayreen Anasta sich nun statt dessen mit den grundlegenden Fragen des Lebens, der Kunst und des Geistes auseinander.

Fragen der Religion und Kultur werden neu interpretiert, die begleitende Musik entsteht zeitgleich bei dem Gespräch. Die besondere Pointe ist eine einzigartige Kombination verschiedener Formen der erzählenden Zeit: Der ganze Film, der in Saal Eins des Kino Arsenal läuft, ist eine Kombination aus den zehn Jahre alten Filmdokumenten und der Musik- und Sprachperformance, welche während der Vorführung in Echtzeit im Kinosaal Zwei live inszeniert wird. Ein aufregender Schritt im experimentellen Kino.

Dienstag, 20.2. – Tag 6 – Daniel

FORUM

42.

Vorfilm:

ACCIDENCE

(Kanada, R.: Guy Maddin, Evan Johnson, Galen Johnson)
Es passiert viel zu viel auf der Welt. Es passiert auch viel zu viel auf den Balkonen gegenüber. Würde er heutzutage noch aus dem „Fenster zum Hof“ blicken, James Stewart bekäme überhaupt nicht mehr alles mit.

Beim anschließenden Q&A erklärten Galen und Evan Johnson übrigens interessanterweise, sie hätten bei der Konzeption des Films überhaupt nicht an „Rear Window“ gedacht.
Link zum Trailer auf Youtube

Hauptfilm:

THE GREEN FOG

(Kanada, R.: Guy Maddin, Evan Johnson, Galen Johnson)

Ein elementares Meisterwerk der Sonderklasse konnte heute abend im Cinestar IMAX seine Premiere feiern. Die Ursuppe aller Meta-Filme. Starring: (beinahe) sämtliche Filme und TV-Serien, die in San Francisco gedreht wurden. Introducing: Der Grüne Nebel!

Guy Maddin, der Spezialist für das Obskure und Bizarre, liefert uns – zusammen mit seinen kongenialen Partnern Galen und Evan Johnson – mehrere Filme in einem. Zunächst ist es die Liebeserklärung an die Filmstadt „San Francisco“ – der Reigen an Filmzitaten kennt keine Unterschiede zwischen qualitativen Höhen und Tiefen, so reiht sich eine Szene aus einem Film Noir mit Joan Crawford nahtlos an einen Action-Streifen mit Chuck Norris. Doch die Aneinanderreihung entspricht durchaus einem strengen formalen Konzept. Die Komposition der Filmszenen ist eine Rekonstruktion wie auch Dekonstruktion von Alfred Hitchcocks „VERTIGO“. Jede Einstellung aus „VERTIGO“ ist ersetzt worden durch eine entsprechende Einstellung aus dem Film-Kosmos um San Francisco.

Das ästhetische Format lotet die Höhen und Tiefen filmischer Darstellungskunst aus. In Erscheinung treten statt James Stewart und Kim Novak alle möglichen anderen Film- und Serienfiguren, die man kennt oder auch nicht, so natürlich auch Karl Malden und Michael Douglas aus den Straßen von San Francisco. Dieser darf sogar in einer amüsanten Brechung der Erzählstruktur sich selbst auf der Leinwand in „Basic Instinct“ erblicken. „You’re looking good, Mike. Ever thought of going into Show Business?“ lautet der passende Kommentar. Nicht, dass das wichtig wäre. Douglas hat Glück, denn die meisten Dialoge der Filmfragmente hat Guy Maddin einfach herausgeschnitten, so dass wir nur die Gesichter und ihr sonderbares Minenspiel sehen. Mit einigen Ausnahmen klingen die meisten Dialogszenen dann folgendermaßen: Einblendung der Hintergrundgeräusche.

Doch eine pure Aneinanderreihung von Miniaturfragmenten wäre zu banal. Es zieht sich ein roter Faden durch die Handlung, oder vielleicht sollte ich sagen, ein grüner Faden. Wie herabgestiegen aus der Erzählebene jenseits der Diegese taucht ein geheimnisvoller grüner Nebel auf, der das Unzusammenhängende miteinander verbindet und gleichzeitig eine eigene unerklärliche Parallelwelt kreiert.

Der zweite grüne Faden, der an die Stelle der Dialoge tritt, ist der Soundtrack von Jacob Garchik, der vom Kammermusik-Ensemble Kronos-Quartett gespielt wird – welches übrigens auch eine Institution der Stadt San Francisco ist.

THE GREEN FOG ist perfekt, wenn auch die Maddin-typische Faszination eines skurrilen Drehbuchs seiner Langspielfilme und seine liebgewonnene Muse Louis Negin fehlen, der wohl anscheinend niemals in einem Film mitgespielt hat, der in San Francisco gedreht wurde… Doch allen cineastischen Liebhabern von Meta-Filmen sei dieses Werk wärmstens empfohlen, nicht zuletzt um das wahre Geheimnis von Chuck Norris zu ergründen, dessen extrem ausdrucksstarke Reglosigkeit der Gesichtszüge selbst die Unnahbarkeit von Kim Novak noch in den Schatten stellt.

Weitere Vorführtermine:

Mittwoch, 21.02., 22:45, Cubix 9

Freitag, 23.02., 11:00, CineStar 8

Sonntag, 25.02., 16:00, Delphi Filmpalast

Link zur URL-Seite der Berlinale mit dem Programmvermerk zu „THE GREEN FOG“

Link zum Trailer auf Youtube

WETTBEWERB:

43.

DON‘T WORRY, HE WON‘T GET FAR ON FOOT

(USA, R.: Gus van Sant)

Based on True Shit – die Lebensgeschichte des Cartoonzeichners John Callahan, der nach einem Unfall an den Rollstuhl gefesselt ist und im Zeichnen eine Form der Therapie entdeckt. Gus van Sants neuer Film ist ergreifend, emotional, aber nie sentimental oder melodramatisch. Joaquin Phoenix liefert eine herausragende schauspielerische Leistung in dieser auch sonst prominent besetzten witzigen und berührenden Überlebensstudie.

Auch der zeitliche Kontext ist erfrischend realistisch inszeniert – man hat tatsächlich das Gefühl, wieder in die frühen Achtziger Jahre zurückzukehren. Was im Übrigen für John Callahan wesentlich wichtiger ist, ist die Überwindung seiner Alkoholsucht und seines Selbsthasses, hier hilft ihm nicht nur eine Therapiegruppe, sondern auch die Vision seiner leiblichen Mutter, die er nie persönlich kennengelernt hatte.

Wie uns der Regisseur schon einen Tag vorher bei einem Panel des Berlinale Talente-Campus erzählte, hatte ursprünglich Robin Williams diesen Stoff bearbeiten wollen, aber nach dessen Freitod hatten die Produzenten sich dann an van Sant gewandt, und dieser war zum Glück daran interessiert gewesen.

Weitere Vorführtermine:

Mi 21.02. 09:30
Friedrichstadt-Palast (D)

Mi 21.02. 12:30
Haus der Berliner Festspiele (D)

Mi 21.02. 17:30
Friedrichstadt-Palast (D)

Fr 23.02. 12:30
Zoo Palast 1 (D)

So 25.02. 14:30
Friedrichstadt-Palast (D)

44.

KHOOK

(Iran, R.: Mani Haghighi)

Anarchistisch, morbide, phantasievoll, lebendig, skurril und mit viel brutalen Szenen von ermordeten Filmregisseuren Irans, die allesamt geköpft wurden. Doch warum sollte das einen unangenehm berühren – die meisten der Todesopfer waren ja ziemlich schlechte Regisseure, zumindest nach Meinung Hasans, dem immer noch lebenden Regisseur. Hasan – ein Regisseur mit Drehverbot – beginnt sich allmählich zu wundern, als ein Rivale nach dem anderen geköpft wird … Er fragt sich: „Warum denn nicht ich? Bin ich als Regisseur nicht gut genug?“ Abgesehen von seiner gekränkten Eitelkeit kommt erschwerend hinzu, dass die Polizei ihn selber für den Hauptverdächtigen hält. Zwischen den sehr lustigen aber auch bizarren Verwicklungen, in denen die modernen sozialen Medien, aber auch seine eigene Mutter (die ihr eigenes Gewehr hat) keine unwesentliche Rolle spielen, sind die Phantasieszenen die Höhepunkte des Films, in denen sich Hasan als Hardrockstar à la AC/DC imaginiert. Die Lösung ist allzu deprimierend und entlässt den Zuschauer ernüchtert in die Realität der religiösen Fanatiker, die der Freiheit der Kunst ihren Kampf angesagt haben…

Weitere Vorführtermine:

Mittwoch, 21.02., 19:00, Berlinale Palast

Donnerstag, 22.02., 13:30, Friedrichstadt-Palast

Donnerstag, 22.02., 18:30, Haus der Berliner Festspiele

Donnerstag, 22.02., 22:30, International

Sonntag, 25.02., 20:00, Friedrichstadt-Palast


PANORAMA:

45.

ONDES DE CHOC – PRÈNOM MATHIEU

(Schweiz, R.: Lionel Baier)

Auch dieser Film beruht auf wahren Ereignissen in der Schweiz der achtziger Jahre: Für Mathieu Reymond muss das Leben weitergehen. Nachdem der 17-jährige von einem Serientäter misshandelt und vergewaltigt, schleichen sich immer mehr Details der Tat und zur Person des Täters in sein Bewusstsein und in seine Träume. Die Familie ist erschüttert, rührend ist der Polizist, der sich sensibel und voller Anteilnahme um Mathieu kümmert, um sein Erinnerungsvermögen zu sensibilisieren. Aber auch die Umwelt, Mitschüler, Lehrer, die Freundin, wissen nicht, wie man dem seelisch verwundeten Jungen helfen kann, der sich immer seltsamer verhält, fast so als gäbe er sich selber die Schuld für die Untat. „Was stimmt denn nicht mit mir?“ lautet seine verzweifelte Frage am Schluss der Film; auf diese Frage muss selbst der Polizist die Antwort schuldig bleiben. Ein packendes Seelendrama mit ein paar aufheiternden Szenen zwischendurch (wie zum Beispiel die Einweihung der neuen Mikrowelle, des damals neuesten Hypes der Achtziger Jahre).

Weitere Vorführtermine:

Mittwoch, 21.02. 17:00, Cubix 9
Freitag, 23.02. 22:45, CineStar 3

BERLINALE SPECIAL GALA

46.

DAS SCHWEIGENDE KLASSENZIMMER
(D., R.: Lars Kraume)
Die wahre Geschichte einer Abiturklasse in Eisenhüttenstadt in der DDR (welches damals Stalinstadt hieß) im Jahre 1956. Durch eine Schweigeminute zu Ehren der Opfer des Ungarnaufstandes wird das politische System in Unruhe versetzt.
Gegen den Druck des Regimes und der Familien leistet die Klasse ihren eigenen Akt des Widerstands. Doch für fünf der Schüler wird die Krise auch zur Belastungsprobe ihrer eigenen Freundschaft. Manchmal lässt sich die politische Überzeugung nicht vereinbaren mit dem, woran man im Herzen glaubt, besonders wenn auch die Familie noch in das Spiel mit hineingezogen wird.
Es zehrt an der Substanz, mit ansehen zu müssen, wie die Klasse seelisch terrorisiert wird vom hasserfüllten Bildungsminister und seinen Schergen.
Die schwierigen Texte der manchmal sehr dramatischen Szenen sind eine Herausforderung, der die jungen Schauspieler nicht immer gewachsen sind – hier ist im Zweifelsfall das „Über-Agieren“ angesagt.
Die Filmmusik ist thematisch etwas zu stark angelehnt an „Midnight Cowboy“ von John Barry, und wird in den dramatischen Momenten allzu heftig laut, damit der Zuschauer auch ganz genau weiß, was er dabei fühlen soll.
Trotz einiger Längen und gelegentlich all zuviel Sentimentalität ein sehenswerter Film.

Zum Vergleich hier der Link zum musikalischen Thema „Midnight Cowboy“ von John Barry auf Youtube.

Nachtrag:

Und nun noch ein Link zum etwas ausführlicheren Radiobeitrag auf meiner Homepage, der anlässlich des Kinostarts am 1. März im Magazin „Stoffwechsel“ auf Radio Z ausgestrahlt wird.

BERLINALE CLASSICS

47.

MEIN XX. JAHRHUNDERT
(Ungarn 1988, R.: Ildikó Enyedi)
Ein bezauberndes Märchen über die Schicksalsstunde der Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert – erzählt durch die zwei völlig unterschiedlichen Biographien zweier Zwillingsschwestern, von denen die eine zur anarchistischen Widerstandskämpferin wird und die andere zur hedonistischen Hochstaplerin.
Als Nebenfiguren treten sowohl Thomas Edison wie auch Nikola Tesla in Erscheinung, doch auch die glitzernden Sterne sprechen zu den Figuren, ebenso wie die leuchtenden Glühbirnen. Die Poesie der Bilder und Klänge sowie die Erotik des Rätselhaften ziehen den Zuschauer in den Bann.
Das Schmankerl des Films ist Paulus Manker in der Rolle des frauen- und judenfeindlichen Sexualphilosophen Otto Weininger. Eine Rolle, die er dann ein Jahr später noch ein zweites Mal in der Verfilmung von Joshua Sobols Theaterstück „Weiningers Nacht“ spielte.
„Mein XX. Jahrhundert“ ist als Schwarzweißfilm eine Hommage an den Stummfilm und daher auch mit dessen Mitteln inszeniert (Moderation für Radio: Im Hintergrund hören wir gerade die Schlussklänge des Films). Und er bietet ein erzähltechnisch raffiniertes Ende an – die Zeit wird zurückgedreht.
Auf der Berlinale 2018 wird erstmals eine digital restaurierte Fassung im Format 4K DCP aufgeführt.

FORUM EXPANDED

48.

Programm XI

ONWARD LOSSLESS FOLLOWS

(USA, R.: Michael Robinson)

Wieder eine Montage aus Film- und Videomaterial, diesmal über das Ende der Zeit im vom Klimawandel bedrohten Amerika.

Ein Lehrvideo aus den Achtziger Jahren über die Gefahr, bei Fremden ins Auto zu steigen, verwandelt sich durch geschicktes Umkehren der Reihenfolge der Szenen und durch zusätzliche Einblendungen von Smartphone-Textbotschaften in eine unmögliche Liebesgeschichte. Ein Hubschrauber rettet ein Pferd aus einer Schlucht und fliegt mit ihm über das weite Land – für den Betrachter ein seltsames Gefühl der Poesie und der Rührung, für das Pferd eine wundersame Reise.

Ein manischer Prediger wettert gegen die moderne Welt mit den Worten: „There is no helping Star“.

Die Flut der Bilder endet in einem ekstatischen Pandämonium der unterschiedlichsten medialen Formate. Es wird kein Wasser von der Venus geben, um Kalifornien zu retten.

DIE SCHLÄFERIN

(D., R.: Alex Gerbaulet)

Der Blick gleitet durch zwei verschiedene leere Wohnungen. Verschwunden sind die beiden Hausfrauen, die einst in diesen beiden Wohnungen lebten mit ihren Ehemännern. Sie kannten sich nicht, doch sie teilen das gleiche Schicksal, mit einem zeitlichen Abstand von zehn Jahren. Die Schlagzeile der beiden Zeitungsartikel ist identisch.

Was ist geschehen? In beiden Zeitungsartikeln heißt es: „Sie habe zurückgezogen gelebt und sei eine unscheinbare Frau gewesen“. Zitat Ende. Bis zu dem Moment, an dem bei diesen beiden Frauen plötzlich die entsetzliche Verzweiflung durchbricht. Die Spirale der täglichen häuslichen Gewalt endet durch ihren eigenen Gewaltakt.

Biografische Informationen erfolgen per Ton von den Angehörigen. Die Geschichte der beiden Frauen wird rekonstruiert und imaginiert – doch sie bleiben unsichtbar, so wie Tausende anderer Frauen, die unter häuslicher Gewalt leiden.

Der rein formale Aspekt der Inszenierung ist gelungen, aber es überwiegt die Betroffenheit der zwei Geschichten, die man nur erahnen kann.

WA AKHIRAN MUSIVA (At Last, A Tragedy)

(Libanon/Syrien, R.: Maya Shurbaji)

Eine von Schwermut paralysierte Seele sucht nach Befreiung von der Last, doch die Suche nach dem Ursprung der Schwere löst eine Angst aus, die den Körper und den Geist angreift.

Die Filmemacherin macht sich auf die Suche nach ihrer Tragödie, bemüht sich, sie zu fassen zu bekommen, findet sie in ihrem Körper und trennt sie heraus, doch sogleich ist die Tragödie wieder verschwunden.

Die Suche beginnt von neuem. Ein schwarzes Kleid hängt vor dem Fenster. Einer der geheimnisvollsten und traurigsten Filme der Sektion FORUM EXPANDED.

IT

(Belgien, R.: Anouk de Clercq, Tom Callemin)

Eine anmutige Begegnung von Licht und Dunkel. Im Dunkeln liegt der Wald, man hört nur die Zikaden. Allmählich wird es heller, der Birkenwald wird sichtbar wie bei einer Morgendämmerung. Wie magische kleine Sternenlichter in seiner Mitte erscheinen die Glühwürmchen.

Allmählich schwenkt die Kamera nach oben, und die Sonne wandert ins Bild.

Das, was man gesehen hat, entspricht den Worten des blinden Mannes, der eine Sonnenfinsternis durch ganz andere Sinne als das Sehen wahrnahm.

IT ist eine Offenbarung des Lichts, wie ein sehr poetischer und zarter Moment.

FORUM EXPANDED

49.

PROGRAMM VII:

THE INVISIBLE HANDS

(Griechenland, Ägypten, R.: Marina Gioti, Georges Salameh)

Im Jahre 2011 kam der Musiker Alan Bishop in Kairo an, kurz nach dem arabischen Frühling von 2011, um dort mit jungen Musikern zu arbeiten und seine alten Songs ins Arabische zu übertragen. Eine neue Band entsteht, die INVISIBLE HANDS.

Die Übersetzungsarbeit des Musikers mit den drei Ägyptern in Kairo resultiert in notwendigen inhaltlichen Veränderungen der Texte, die die Lebensumstände und das Zeitgeschehen berücksichtigt.

Die Zustände in Ägypten verbessern sich währenddessen keineswegs, es spielt sich eine politische Tragikomödie ab, die auch Auswirkungen auf Alan Bishops Existenz hat.

So entsteht über die Jahre hinweg ein Dokumentarfilm über die Rolle der Musik und der Kunst inmitten eines totalen gesellschaftlichen Chaos.

Die Band THE INVISIBLE HANDS tritt im Rahmen des FORUM EXPANDED auch live auf, und zwar am 20. Februar im SILENT GREEN KULTURQUARTIER.

Montag, 19.2. – Tag 5 – Daniel

RETROSPEKTIVE

34.

MIT DER KAMERA DURCH ALT-BERLIN

Ein acht Minuten langer Film beglückt mit dokumentarischen Filmaufnahmen aus dem Berlin des Jahres 1928. Dazwischen werden zum Vergleich alte Zeichnungen und Stiche aus dem Jahre 1800 eingeblendet.

Der kurze Film ist weniger ein Portrait der hier wohnenden Menschen als eine Darstellung des architektonischen Wandels.

Natürlich besonders für Berlinfreunde und -kenner interessant, die viele Orte trotz der Veränderungen wiedererkennen können, wie zum Beispiel den just zwei Jahre zuvor erbauten Funkturm oder Klein-Venedig.

35.

DIE ABENTEUER EINER SCHÖNEN FRAU

(Deutschland 1932, R.: Hermann Kosterlitz)

Es gibt wahrhaft schlechtere Alternativen auf der diesjährigen Berlinale, als sich einen Spielfilm mit Lil Dagover aus dem Jahre 1932 zu gönnen. In „Die Abenteuer einer schönen Frau“ stellt sie eine selbständige Bildhauerin dar, Thea Roland, die sich auf der Suche nach einem Model für eine Statue in einen Boxer aus England verliebt und sich im Folgenden trotzdem ihre Unabhängigkeit als Frau, Künstlerin und alleinerziehende Mutter bewahrt.

Die Komödie mit dem offenen Schluss, der ein allzu konventionelles direktes Happy End vermeidet, hat leichte Drehbuchschwächen, besonders in den Aktionen und Motivationen der Hauptfiguren wechselt sich ab und zu allzu unerklärlich um 180 Grad gewissermaßen ihre moralische Ausrichtung.

Das Jahr 1932 wirkt wie das letzte Jahr der Unschuld in dieser Dekade, und doch spürt man bereits die Vorzeichen des dritten Reichs. Der Körperkult der Männlichkeit in den neu entstandenen Fitnesszentren jener Ära wird hier auch zum Glück parodiert wird.

Als einer der ersten Tonfilme hat auch die Filmmusik ihren gebührenden Unterhaltungswert, so zum Beispiel in der non-verbalen Kommunikation purer Freude zwischen dem Vater und seinem kleinen Sohn bei deren erster Begegnung – und das Radio als neues Medienformat spielt eine kleine aber nicht unwichtige Nebenrolle.

Auch der damalige Umgangston in der Gesellschaft ist sehens- bzw. hörenswert, man hat schon manchmal das Gefühl, einer Fremdsprache zu lauschen, wenn Thea im „Clinch“ liegt mit dem „Flaps„. Und Theo Lingen, der eine klitzekleine Nebenrolle hat, sieht so aus wie immer in seiner gesamten Karriere.

GENERATION

36.

DIKKERTJE DAP

(Niederlande, R.: Barbara Bredero)

Das Märchen vom kleinen Jungen Dikkertje und seinem allerbesten Freund, der sprechenden Giraffe Raf. Als Dikkertje in die Schule kommt, kann er nicht mehr so oft wie früher in den Zoo, um seinen besten Freund zu sehen. Damit umzugehen, das muss er erst mal lernen. Mit allen Tricks versucht er den Schulbesuch zu vermeiden. Manchmal endet ein Film anders als man denkt. Hier zeigt sich manchmal auch, ob es ein Film für Kinder, ein „Coming-of-Age„-Film oder ein Film für Erwachsene ist.

Weil der Film ein schönes Märchen bleibt, ist er ein Film für Kinder. Der kleine Dikkertje verliert seinen Freund Raf nicht, sie hören nicht auf, miteinander zu sprechen und Spaß miteinander zu haben, im Gegenteil, sogar Dikkertjes neuer Freund und Klassenkamerad Yous kann Dikkertje verstehen. Was auch gut ist, denn erwachsen werden wir alle früh genug, man muss da nichts erzwingen, besonders wenn man sechs Jahre alt ist.

Die Phantasie in uns, die Kraft unserer Imagination, lässt uns die Grenzen der Kommunikation überwinden – hören wir nicht auf, dem Echo der Tierstimmen in uns zu lauschen. Die Geschichte basiert übrigens auf einem Kindergedicht.

Anmerkung: Dikkertje hat viele unterschiedliche Namen. In den englischen Untertiteln heißt er „Patterson“, im Berlinale-Begleitheft der ARD, die den Film koproduziert hat, ist sein Name „Dominik“. Die naheliegendste Übersetzung „Dickerchen“ würde dem kleinen süßen Fratz aber auch wirklich nicht gerecht werden.

PERSPEKTIVE DEUTSCHES KINO

37.

VERLORENE

(D., R.: Felix Hassenfratz)

Maria und Hannah leben nach dem Tod ihrer Mutter alleine bei ihrem Vater, in der badischen Provinz. Als Valentin, ein junger Zimmermann auf der Walz, im Betrieb der Familie zu arbeiten beginnt, verliebt sich Maria in ihn, doch ein dunkles Geheimnis verhindert, dass Maria ihrer Liebe nachgehen kann. Doch Hannah kommt der Sache auf die Spur.

Das ernste Thema Vater-Tochter-Inzest mit sexuellem Missbrauch wird sensibel erzählt, doch die Grenze zum melodramatischen Heimatfilm wird leider ab und zu überschritten. Die urdeutschesten tragischen Dramen Gerhart Hauptmanns kommen einem dann in den Sinn.

Was bleibt den beiden Schwestern da anderes übrig als gemeinsam die Flucht anzutreten. Marias Orgelspiel – immer wieder ihr Zufluchtsort – weist den Weg in die Zukunft …

FORUM

38.

DEN‘POBEDY (VICTORY DAY)

(Deutschland/Russland, R.: Sergei Loznitsa)

Es spielen sich wahrhaft hanebüchene Vorgänge ab am Sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park in Berlin – am 9. Mai, dem Tag der Befreiung Deutschlands vom Faschismus.

Das Dokumentarmaterial, das im letzten Jahr dort entstanden ist, zeigt eine unglaubliche Bandbreite an politischen und nostalgischen Parallelwelten, die hier aufeinandertreffen. Menschen unterschiedlicher Haltung und Herkunft entfalten ein bizarres Treiben zwischen Anteilnahme, patriotischem Gebaren, Nachdenklichkeit oder folkloristischem Volksfest mit Gesang und Tanz.

Der Kontrast zu dem Spektakel sind die stummen Gesichter und Figuren auf den steinernen Reliefs – sie erzählen eine ganz andere Geschichte von Trauer, Leid und Opfern und auch von den wahren Helden des Tages.

(Ich werde mir das Spektakel sicherlich beim nächsten 9. Mai auch einmal ansehen).

PANORAMA

39.

TRINTA LUMES (Thirty Souls)

(Spanien, R.: Diana Toucedo)

Im Alltag eines galicischen Dorfes scheinen die grenzen zwischen Wirklichkeit und Fiktion zu verschwimmen. Im Hybrid aus Spiel- und Dokumentarfilm weilen Tote unter den Lebenden, während Lebende plötzlich verschwinden.“ So beschreibt der Text im Programmheft den Inhalt. Woran man eines erkennt: Oftmals klingen solche Beschreibungen wesentlich interessanter als der tatsächliche Film. Inhaltlich lässt sich nichts daran aussetzen, d.h. der Film hat all diese Elemente. Jedoch die Umsetzung ist missglückt. Sensationelle Landschaftsaufnahmen auf Galicien und völlig banale Szenen aus dem Alltagsleben der Figuren, dazwischen einzeln verstreut ein paar magische Lichter und eine Handlung, die leider vollkommen untergeht. Kaum zu ertragen ist die verquaste Esoterik. Gesamtwertung: Zwiespältig.

FORUM

40.

14 APPLES

(Burma, R.: Midi Z)

Als Maßnahme gegen Shin-hongs Schlaflosigkeit und Depressionen hatte ihm eine Wahrsagerin empfohlen, für vierzehn Tage ein Kloster aufzusuchen und dort täglich einen Apfel zu essen. Der Glaubensalltag und das Dorfleben gewähren Einblick in die Funktionsweise des Buddhismus im ländlichen Burma.

Es sind sehr lange ausführliche Szenen, in denen wir Shin-hong auf seinem Weg begleiten, die Kamera ist immer in unmittelbarer Nähe. Der langwierige Kauf der Äpfel auf dem Jahrmarkt. Die Fahrt durch die Steppe zu dem Dorf. Eine Gruppe von Jungen, die dem Wagen aus einem Loch im Sand helfen. Das Abrasieren der Haare im Kloster, die Aufnahmezeremonie, die Begrüßung des neuen Mönchs beim Marsch durch durch das Dorf mit dargebrachten Gaben in Form von Naturalien. Die ersten eigenen Predigten, ein Marsch von fünf Frauen mit großen Eimern Wassern viele Minuten lang bis zum Kloster, um den großen Betonbottich wieder aufzufüllen… Die Patrouillen des jungen Mönchen durch das Dorf lassen ihn halb wie einen Hirten, halb wie einen Dorfpolizisten erscheinen: Die Menschen stehen nun in seiner Verantwortung. Das Leben ist alles andere als idyllisch. Und immer wieder wird der nächste Apfel gegessen. Einmal spricht der alte Mönch mit Shin-hong über dessen Leben, der von seinem Laden erzählt. Wie ein kurierendes Zauberwort erklärt der alte Mönch, scheinbar nur nebenbei: „Es ist gut, einen Laden zu haben.“ Wenig später, in der Abenddämmerung, isst Shin-hong den letzten der vierzehn Äpfel. Unspektakulär und ohne weitere Ausblicke endet der Film. Das eigene Glück muss der Zuschauer anderswo finden.

BERLINALE TALENTS EVENT

41.

A Place Like Home: The Cinema of Gus Van Sant

Im Rahmen der Panels auf dem Berlinale Talente Campus finden sich viele der Regisseure und Filmkünstler, die in diesem Jahr auf der Berlinale vertreten sind, auch zu Gesprächsrunden ein, um über das Filmemachen und ihre Erfahrungen mit Schauspielern und der Industrie zu sprechen. Nicht zuletzt natürlich gehört auch ein wenig Klatsch über die berühmten Stars dazu.

Gael García Bernal, Sir Ken Adam, Charlotte Rampling oder auch Roland Emmerich – sie alle konnte ich hier in den letzten Jahren einmal live erleben.

In diesem Jahr war es Gus van Sant, ein besonders sympathischer Regisseur, der viele interessante Details aus den Anfängen seiner Laufbahn erzählen konnte. So hat z.B. die Vorbereitung von MY OWN PRIVATE IDAHO zehn Jahre gedauert. Um den Film zu finanzieren, war der Besuch auf der Berlinale in den Achtziger Jahren hilfreich gewesen, dort habe ihm der Schauspieler und Filmemacher Christoph Eichhorn entscheidende Ratschläge geben könne, wie er den Film finanzieren konnte. Und natürlich traf van Sant damals auch Udo Kier, der ja nicht nur in MY OWN PRIVATE IDAHO sondern auch in DON’T WORRY, HE WON’T GET FAR ON FOOT eine kleine Nebenrolle hatte. Aufschlussreich waren auch die Erfahrungen mit William S. Burroughs, der eine kleine Rolle in DRUGSTORE COWBOY spielte, aber erst, nachdem die Figur komplett umgeschrieben wurde – letzten Endes schrieb Burroughs alle seine Szenen selber. Und der Arbeitsstil von van Sant ändert sich übrigens auch nicht, egal ob es sich nun um eine Hollywoodproduktion wie MILK handele oder um ein Independentprojekt.

Sonntag, 18.2. – Tag 4 – Daniel

BERLINALE SHORTS

24.

Programm III: Vom Rausch des Lebens

THE MEN BEHIND THE WALL

(Israel, R.: Ines Moldavsky)

Per Smartphone machen ein Mann und eine Frau was klar.

Die Regisseurin Ines aus Tel Aviv interessiert sich für die Männer aus dem Westjordanland. Via Datingplattformen treffen sie sich. Das Thema ist – wieder einmal – das Überschreiten von Grenzen…

Nachtrag: Der Film gewann den „Goldenen Bären“ der Internationalen Kurzfilm-Jury.

T.R.A.P

(Argentinien, R.: Manque La Banca)

Das Boot von drei mittelalterlichen Rittern strandet im blauen Zwielicht am Ufer des Río De La Plata. Der Anführer ist eine Frau. Die Suche beginnt – im Sumpf flickert der Film heftig. Sie suchen ein Grab, an dem sie ein Ritual durchführen müssen: Sie haben zu dritt Sex auf dem Grab. Das Versprechen ist erfüllt. Dann die unerwartete Wendung. Sie finden ein Auto, legen ihre Kettenhemden ab und schauen sich den Sonnenuntergang an, während sie Bier trinken und dem Radio zuhören.

Ein schönes Juwel.

Nachtrag: Der Film erhielt eine TEDDY-Award-Nominierung für den besten Kurzfilm.

BESIDA

(Nigeria, R.: Chuko Esiri)

Und wieder die Eingeborenen im Dschungel und ein Dort, diesmal im Süden Nigerias. „Als ich dich brauchte, warst du nicht da? Was willst du jetzt?“, sagt die Schwester zum Bruder. Ein kleines Dorf: Die Autos halten nur, um die jungen Frauen in die Stadt zu bringen. „Du warst doch selbst da„, sagt sie. „Deswegen ja„, sagt er. „Geh nicht.“

Das Drama der Frauen auf dieser Welt hat gerade erst begonnen.

WISHING WELL

(D, R.: Sylvia Schedelbauer)

Ein flimmerndes Bild mit Waldfluss. In die poetische Waldszenerie wird ein zweites Bild eingeblendet: Schemenhaft sieht man einen Jungen, der läuft, die Hand ausstreckt nach etwas Undefinierbaren.

The very cave you are afraid to enter turns out to be the source of what you are looking for.“ So lautet ein Aphorismus von Joseph Campbell. Die Musik zu den lyrischen und zarten Bildern stammt von Jeff Surak.

THE SHADOW OF UTOPIA

(Österreich, R.: Antoinette Zwirchmayr)

Nahaufnahmen von Schmuck, Bauchtanzoptik. schöne Dinge werden aufgezählt, mystisch anmutende Frauengestalten stehen – beinahe regungslos – am Strand. Edelsteine – und das, was der Schmuck darstellt. Delphine zum Beispiel.

The Shadow of Utopia ist der dritte Teil der Trilogie „What I remember“. Die Regisseurin inszeniert ihre eigene Familiengeschichte in fragmentarischen Bildern. Brasilien im Spiegel der Erinnerung.

PANORAMA SPECIAL

25.

L’ANIMALE

(Ö., R.: Katharina Mueckstein, D: Sophie Stockinger, Kathrin Resetarits, Dominik Warta u.a.)

Kurz vor dem Schulabschluss und dem Studium in Wien ändern sich in der Welt der jungen Mati noch einmal die Vorzeichen. Freundschaft und Liebe müssen in ihrer Jungsclique plötzlich neu verhandelt werden, als sich der beste Kumpel Matis plötzlich in sie verliebt und sich ihr „Best-Friends-Forever“-Status plötzlich in Matis Widerstand gegen Sebastians animalische Gelüste auflöst.

Doch auch in Mati brechen neue Empfindungen auf, als sie die selbstbestimmte Carla kennenlernt, die ihr zeigt, wie es sein könnte, wenn Mati selber plötzlich ein lebendiger und offener Mensch wäre. Die bisherige Tagesordnung mit den James-Dean-artigen Moped- oder Disco-Exzessen mit gelegentlichen Handgreiflichkeiten offenbart ihren Charakter der starren Leblosigkeit, mit der nur die eigenen Unsicherheiten – und das ANIMALISCHE im Menschen – übertüncht werden.

Währenddessen stolpern Matis Eltern über die eigenen Lügen. Der Vater Paul verbirgt seine homosexuellen Neigungen vor seiner Frau und vor der Gesellschaft, doch Gabriela kommt seinem Geheimnis auf die Spur.

Im Deutschunterricht wird das Gedicht „Selige Sehnsucht“ von Goethe analysiert. Soll die Dichtung auch das Leben von Mati bessern? Bei der Abschlussprüfung jedoch schreibt sie kurzerhand entschlossen ihren Text und gibt dann ihr Blatt ab – lange vor den anderen, wie das Sinnbild ihrer gewonnenen Entschlusskraft.

Die Eltern hingegen können aus ihrem Kreislauf nicht mehr ausbrechen. Das Animalische in ihnen, das sich nach Ausdruck sehnt, bleibt nunmehr verborgen unter der Oberfläche der zivilisierten Bürgerlichkeit.

Man wünscht den beiden also nur: noch mehr LEBEN / VERÄNDERUNG bitte für die Zukunft, bitte noch mehr ANIMA.

PANORAMA

26.

MES PROVINCIALES (A Paris Education)

(Frankreich, R: Jean-Paul Civeyrac, D: Adranic Manet, Gonzague van Bervesseles, Corentin Fila)

Drei Filmstudenten aus der französischen Provinz und ihre ersten Erfahrungen mit der Kunst und dem Leben. Eine zärtliche schwarz-weiße Studie über Leidenschaften, Irrtümer und Tragödien der Jugend und eine melancholische Liebeserklärung ans klassische Kino und an Paris.

Mit all den freundschaftlichen Verwicklungen, amoureusen Episoden und den Auseinandersetzungen um Liebe, Filmkunst, Politik, Literatur und Freundschaft wird doch vor allem eines – mit Leidenschaft geredet.

Und damit ist MES PROVINCIALES definitiv der französischste Film auf der diesjährigen Berlinale. Nicht nur für cineastische Neulinge auf diesem Gebiet sicherlich eine Bereicherung.

PERSPEKTIVE DEUTSCHES KINO

27.

DIE DEFEKTE KATZE

(D., R: Susan Gordanshekan)

„Die Defekte Katze“ ist eine umgekehrt verlaufende Liebesgeschichte. Zwei Fremde gehen eine traditionell geschlossene Ehe ein, wie es in der iranischen Kultur üblich ist, dafür reist Mina aus dem Iran nach Deutschland zu Kian.

Den Defekt haben nicht nur die Gene der Katze, die Mina im Laufe der Handlung mit nach Hause bringt, defekt ist vor allem die Beziehung zwischen ihr und ihrem Mann Kian.

Mühsam arrangieren sie sich miteinander, finden aber trotzdem nicht zusammen – bis sie sich zum Schluss trotzdem neu kennenlernen. Dazwischen finden sich Traumszenen von Begegnungen, die ganz unter Wasser spielen.

Arrangierte Hochzeiten sind keine gute Angelegenheit, auch wenn die Musik gut ist, immerhin tanzt die sich einsam fühlende Protagonistin Mina in den Diskotheken der Stadt zu den Klängen des Labels Kreismusik.

FORUM

28.

DJAMILIA (Jamila)

(Frankreich, R.: Aminatou Echard)

Super 8 ist ein wunderschönes Format, die Bilder von kirgisischen Sommerlandschaften und den schönen Portraitaufnahmen alter und junger Frauen geraten in der pointilistisch anmutenden Super-8-Optik zu einem geradezu impressionistischen Kunstwerk.

Tschingis Aitmatovs Novelle „Dshamilja“ beeindruckte Generationen kirgisischer Frauen: Dshamilja – eine junge Frau, die sich gegen alle gesellschaftlichen Konventionen auflehnt und schließlich ihrem Geliebten folgt.

Behutsam befragt der Debütfilm Echards heutige Biografien und zeigt, wie aktuell die Konflikte, Sehnsüchte und Wünsche nach Selbstbestimmung noch immer sind.

Neben den Bildern beeindrucken auch die fremdartigen Stimmen, wie sie die Geschichte der Romanfigur Dshamilja nacherzählen und ihre Bedeutung für sich interpretieren. Der Weg der Frauen in ein modernes Leben in Freiheit ist auch heute kein leichter.

BERLINALE SHORTS

29.

Programm V: Step Across the Yesterday

LE TIGRE DE TASMANIE

(Frankreich, R.: Vergine Keaton)

Einer der letzten tasmanischen Tiger dreht seine Runden im Zoo. Diese Filmaufnahmen stammen aus der Stummfilmzeit – inzwischen ist er ausgestorben. Dazu sieht man die zeitrafferartigen Erosionen der Erdzeitalter und explodierende Berge, diese sind computergenerierte Animationen. Die Natur ermächtigt sich ihrer Kraft und begräbt alles unter sich. In der Auslöschung des Alten liegt der Anfang für etwas Neues.

All unsere Materie wird sich dereinst auflösen und die Partikel sich im All verteilen. Bis dahin wollen wir an ihn denken, den letzten tasmanischen Tiger.

IMFURA

(Schweiz / Ruanda, R: Samuel Ishimwe)

Ein weiterer Film zu Ethnologie und Postkolonialismus, diesmal in Ruanda spielend.

In Imfura reist der junge Mann zurück in das Dorf seiner Familie in Ruanda. Das Haus seiner 1994 im Tutsi-Genozid verstorbenen Mutter ist Ausgangspunkt für eine Reise in die Vergangenheit mit der Gegenwart vor Augen.

Zwei Brüder lernen sich neu kennen. Ein Konflikttreffen im Dorf wird zum Austragungsort eines gesellschaftlichen Konflikts zwischen Modernisierung, Religion und Tradition. Bei diesem Film vermisse ich ausnahmsweise einen Schluss. Das Ende ist allzu offen.

Nachtrag: IMFURA gewann den „Silbernen Bären“ der Internationalen Kurzfilm-Jury.

ONDE O VERAO VAI (Episódios da juventude)

(Portugal, R.: David Pinheiro Vicente)

In Onde o Verão Vai (episódios da juventude) inszeniert der portugiesische Regisseur David Pinheiro Vicente einen queeren Auszug aus dem Paradies und stellt somit die Frage nach dem Anfang neu.

Die ersten Menschen sind diesmal bereits zu fünft unterwegs im Auto ins Paradies, dort formieren sich klassische aber auch neuartige Beziehungsmuster. Die Sinnlichkeit des Apfels tritt in Erscheinung.

Und der Name der wunderschönen orangefarbenen Schlange, mit der Adam und Eva eine in ihrer Zärtlichkeit geradezu rührende Begegnung haben, ist übrigens Frida.

WHILE I YET LIVE

(USA, R.: Maris Curran)

Eine ländliche Gemeinschaft in den USA, noch ferner kann man der Zivilisation nicht sein. Hier, scheinbar am Ende des Universums, leben einige uralte afroamerikanische Damen, die einstmals Weltstars im Kunstbetrieb waren – damals, als gerade der Quilt-Hype angesagt war.

Die fünf „Quiltmacherinnen“ aus Gee’s Bend, Alabama, sprechen über Liebe, Religion und den Kampf um Bürgerrechte, während sie die Tradition des Quiltnähens fortführen.

Ein eindrucksvolles Portrait in stimmungsvoller Atmosphäre.

PANORAMA

30.

TINTA BRUTA (Hard Paint)

(Brasilien, R.: Marcio Reolon und Filipe Matzembacher)

Pedro ist jung, schwul und verdient sein Geld als Performer in Chatrooms. Als NeonBoy bemalt er seinen nackten Körper und tanzt illuminiert im UV-Licht. Doch dann kopiert jemand anders in der Stadt sein Konzept.

Ereignisse treten in Gang, um Pedro mit dem nie verarbeiteten Trauma einer Missbrauchserfahrung im Kindesalter zu konfrontieren und ihn von seiner unendlichen Angst vor anderen Menschen zu befreien.

Ein ebenso sinnlicher wie sozialkritischer Film, für mich einer der Höhepunkte des PANORAMA in diesem Jahr.

Nachtrag vom 25.02.2018:
Der Film ist – verdientermaßen – Gewinner des TEDDY-Awards!
Außerdem gewann TINTA BRUTA den CICAE ART CINEMA Award.

FORUM

31.

GUSHING PRAYER

(Japan 1971, R.: Masao Adachi, D: Yuji Aoki, Makiko Kim, Shigenori Noda, Hiroshi Saito)

Anfang der Siebziger Jahre wehte der Geist der sexuellen Revolution und der Loslösung vom Establishment auch nach Japan. Regisseur Masao Adachi schuf 1971 den Film, der das Sprachrohr dieser Generation in Japan sein sollte. Vier Jugendliche setzen sich den Konventionen der moralisch korrumpierten Gesellschaft entgegen, indem sie sich statdessen hemmungslosem Gruppensex hingeben.

Doch nachdem die Schülerin Yasuko eine Affäre mit ihrem Lehrer hatte, gilt sie bei den anderen als Prostituierte. Sex wird für sie zum Geschäft ohne Vergnügen. Und so begibt sie sich auf eine Odyssee der Selbsterkundung, um ihre eigenen Grenzen auszuloten.

Zusätzlich zur Geschichte sind Stimmen vom Tonband vernehmbar, die uns aus authentischen Selbstmörderbriefen vorlesen, dazu hört man die Musik von Masato Minami (dessen Stück „It Can’t Be Over“ ihr im Anschluss an diesen Beitrag hören könnt).

Nach dem Scheitern der Studentenbewegung entstand ein Vakuum, dessen Leere hier eindrucksvoll geschildert wird. Und die japanische Jugend der Siebziger ist in Schwarz-Weiß besonders hübsch anzusehen.

Der Film wird im Rahmen des Sonderprogramms „A Pink Tribute to Keiko Sato“ gezeigt. Keiko Sato ist eine der Produzentinnen der sog. „pinku eiga“, Filmen, die ein männliches Publikum mit erotischen Inhalten ansprechen sollten doch in den Siebziger Jahren sich in radikales avantgardistisches Kino verwandelten.

FORUM

32.

KAD BUDEM MRTAV I BEO (When I Am Dead and Pale)

(Jugoslawien, R.: Živojin Pavlović)

In diesem Schlüsselwerk der jugoslawischen „Schwarzen Welle“ will der draufgängerische Jimmy als Sänger ganz nach oben, Talent hin und her. Ein rebellischer Road- bzw. Railroadmovie voller Musik, der uns lebendige Charaktere zeigt und zugleich die quirligen, damals noch entstehenden Randbezirke Belgrads erkundet. Eindeutiger Höhepunkt ist der Pop&Rockwettbewerb am Schluss, bei dem sich die Leidenschaft der musikalischen Jugend Jugoslawiens für die zeitgenössische Beatmusik zeigt. Jimmy hingegen mit seinen sentimentalen Volksliedern und seiner schwachen Stimme geht kläglich unter. Doch das Ende Jimmys ist noch unrühmlicher – ein Showdown, der ihm keine Chance lässt wie bei einem Anti-Western. Zur Aufführung gelangt eine von der Jugoslovenska Kinoteka digital restaurierte Fassung.

FORUM EXPANDED

33.

Programm VI:

ARD AL MAHSHAR (Land of Doom)

(Libanon/Syrien, R.: Milad Arnin)

Lexikoneinträge zu Wut, Angst, Widerstand und Hoffnung werden kontrastiert mit dem Horror einer zerstörten Stadt – von Ost-Aleppo ist in den letzten Tagen seiner Belagerung kurz vor der Befreiung nicht mehr viel übrig…

Per Skype und Telefon begleitet der Filmemacher seinen Freund Ghith, einen Aktivisten und Photographen, durch die Ruinenlandschaft Aleppos. Die Übertragungen dokumentieren in sehr persönlicher Weise das Leiden der Bevölkerung in der Zeit von Belagerung, Hunger und Krieg.

TODAY IS 11TH JUNE 1993

(D./Bosnien und Herzegowina, R.: Clarissa Thieme)

Im Bosnienkrieg im Jahre 1993 drehte ein paar Jugendliche mit sehr schwarzem Humor einen Science-Fiction-Film, in dem sie einen Hilferuf in die Zukunft schicken, sie mögen gerettet werden, sobald die Zeitmaschine erfunden wird. Noch im Film taucht der Reisende aus der Zukunft auf und schickt den Hilferufer in die Zukunft, bleibt aber aus Versehen in der Gegenwart stecken und spricht nun die Videoaufzeichnung mit einem Hilferuf seinerseits zu Ende.

Dieser Experimentalfilm vom 11. Juni 1993 ist mittlerweile von der Filmemacherin Clarissa Thieme in einem Video-Archiv in Sarajevo gefunden worden, einer privaten Sammlung von Amateurvideodokumentationen aus dem Bosnienkrieg.

Die Filmemacherin übersetzt das Material und sendet mittels Simultanübersetzung den 25 Jahre alten Appell nunmehr erneut in die Gegenwart. Gefragt ist nun die Reaktion des Zuschauers.

AALA KAD AL SHAWK – LE VOYAGE IMMOBILE (As far as Yearnings)

(Libanon/Frankreich, R.: Ghassan Salhab/Mohamed Soueid)

Ein stiller, sehr ruhiger und dunkler Film, der an zwei Orten spielt, zum einen erneut in zerstörten und desolaten Gegenden im Nahen Osten, zum anderen aber auch in einer in der Nacht strahlend erleuchteten prächtigen Metropole.

Über die Entfernung sprechen zwei Cineasten, die einst zusammen die gleichen Sehnsüchte hatten und nun aber weit entfernt voneinander leben. Den Traum versuchen sie aufrecht zu erhalten, indem sie sich gegenseitig Nachrichten zuschicken mit Bildern, Tönen und Monologen.

Der multimediale Dialog ihrer Kommunikation bildet seinen eigenen Film, und ihre Seelen finden wieder zusammen. Zu zweit eins sein – zumindest im Film – ist das Ergebnis.

Die Musik stammt u.a. von Modeselektor.

Samstag, 17.2. – Tag 3 – Daniel

RETROSPEKTIVE

13.

DER KATZENSTEG

Eine weitere Literaturverfilmung aus der Weimarer Republik, diesmal von Regisseur Gerhard Lamprecht inszeniert. Genau wie der Roman von Hermann Sudermann aus dem Jahre 1890 zeichnet auch der Film das Bild einer zerrütteten Nachkriegsgesellschaft nach den Napoleonkriegen im Jahre 1813.

Eine preußische Dorfgemeinschaft stellt sich gegen den heimkehrenden Kriegsheld Boneslav, da dessen Vater – als Freund der Franzosen – den französischen Feind in den Rücken eines preußischen Freikorps geführt hatte. Wie Boneslav sich gegen seine Feinde im Dorf behaupten muss, hat schon fast die Züge eines klassischen Westerns a la „Zwölf Uhr Mittags“.

Am Schluss beeindruckt jedoch ein völlig unheroisches Ende, es kommt zu keinem Showdown. Der Soldat muss wieder in die Schlacht, als Napoleon aus seiner Verbannung zurückkehrt. Die höchst nüchterne unsentimentale Texteinblendung am Schluss deutet auf sein vermutliches weiteres Schicksal lediglich hin.

BERLINALE SHORTS

14.

Programm II: U=2·p·r oder Blitze aus dem All

IMPERIAL VALLEY (Cultivated Run-Off)

(D./Österreich, R.: Lukas Marxt)

Ein Drohnenflug über einen künstlichen Wasserlauf im Imperial Valley, einem der größten Obst- und Gemüseanbaugebiete in den USA.

In diesem Jahr fällt übrigens bei vielen der Kurzfilme auf, wie sich der Kameraflug mit Drohne zu einem gängigen Stilmittel des ästhetischen Blicks entwickelt hat.

Der Blick gleitet über einen Kanal in der Wüste, Kläranlagen, einen Kunstsee, Plantagen und über scheinbar endloses Agrarland. Schließlich endet der Flug – im Nichts.

BABYLON

(Philippinen, R.: Keith Deligero)

Einer der schrägsten Beiträge der Berlinale Shorts.

Als ein Freund von mir vor einiger Zeit auf den Philippinen zu Besuch war, erschreckte ihn die Besessenheit der Einwohner mit Schusswaffen. Betrachtet man diesen Film, lässt sich die Obsession gut nachvollziehen. Es wird wirklich viel herumgeballert in Barangay Babylonia!

Dawn und Saab reisen durch die Zeit, um einen Bürgermeister zu ermorden, der später einmal zum Diktator wird, die Geschichte soll umgeschrieben werden.

TERRE MOTO SANTO

(Brasilien, R.: Bárbara Wagner & Benjamin de Burca)

Ein Mann und eine Frau in der unberührten paradiesischen Natur, er im Anzug, sie im schwarzen Kleid. Mit einem Mal fangen sie an zu singen. In der nächsten Sequenz dann: eine Männergruppe in der Gesangsstunde. Weitere ländliche Szenarien mit dem Gesangbuch folgen.

God wrote your story with his own hands, victory is guaranteed„. Das Duo Wagner / de Burca inszeniert den Pop der Evangelikalen in einer großen Schlagershow in Brasilien. Die Predigt der Nacht ist eine andere als die des Tages.

CIRCLE

(Großbritannien/Indien/Kanada, R.: Jayisha Patel)

Ein indisches Dorf. Eine Frau erzählt ihrer Schwester von ihrer Vergewaltigung. Zitat: „Großmutter organisierte meine Vergewaltigung.“ Die Jahreszeiten vergehen schnell.

In einem Kreislauf folgt Jayisha Patel drei Generationen an Frauen aus Indien in ihrem Lebensumfeld und deckt den Kreislauf der Gewalt auf.

Die Hochzeit findet im April statt.

SOLAR WALK

(Dänemark, R.: Réka Bucsi)

Der zweite Trickfilm der Berlinale-Shorts ist eine Ekstase der kosmischen Mythologien. Ein ganzes Universum füllt sich mit Visionen, wenn Réka Bucsi in Solar Walk die Himmel animiert.

Nachtrag: SOLAR WALK gewann den „Audi Shortfilm Award“.

PANORAMA

15.

YOCHO (FOREBODING)

(Japan, 140 Min., R.: Kiyoshi Kurosawa, D: Kaho, Shota Sometani, Masahiro Higashide, Ren Osugi)

Der Himmel über der Stadt hat sich verändert. Ein trübes gleichmäßiges aber auch substanzloses Grau schwebt über der Stadt. Als sich im Leben von Etsuko die unerklärlichen Vorfälle häufen, wird ihr sehr bald klar, dass eine höhere Macht das Ende der Welt einläuten will. Kiyoshi Kurosawa verbindet in seinem Film Elemente von Science Fiction, Horrorfilm, Thriller und Endzeitdrama.

Immer mehr Menschen in der Stadt fehlen plötzlich lebenswichtige Konzepte in ihrem Vorstellungsvermögen. Konzepte wie „Familie„, „Würde„, „Zeit“ oder „Angst„. Allmählich wird Etsuko klar, dass Fremde auf dem Planeten sind, die diese Konzepte aus dem Bewusstsein entreißen.

Der Film FOREBODING (zu deutsch „Vorahnung“) beeindruckt aber vor allem dadurch, dass er komplett auf Spezialeffekte verzichtet. Mit Ausnahme ein paar unauffälliger optischer Effekte entsteht der Eindruck des Fremdartigen und Unerklärlichen lediglich durch die Dialoge bzw. das ungewöhnliche Spiel einzelner Körperteile oder des ganzen Körpers.

Die Schauspieler vermitteln gekonnt den Einfluss des Unbekannten auf die Menschheit. Mit 140 Minuten ist der Film nur leider ein wenig zu lang, insbesondere da manche Handlungselemente zu oft wiederholt werden. Außerdem mag ich keine Szenen, in denen Menschen, und seien es nebensächlichste Randfiguren – lebendig begraben werden. Dennoch ist YOCHO ein Highlight in der Sektion PANORAMA.

PANORAMA SPECIAL

16.

INKAN, GONGKAN, SIKAN GRIGO, INKAN (Human, Space, Time, Human)

(Südkorea/Japan, R.: Kim Ki-Duk)

Der Parabelcharakter der Geschichte wird von Anfang an klar. Eine Gemeinschaft von Menschen aus verschiedenen Schichten der Gesellschaft, die nicht als Charaktere in Erscheinung treten, sondern lediglich als Symbolfiguren und Metaphern.

Die allegorische Reisegesellschaft macht sich auf den Weg an ein unbekanntes Ziel auf einem uralten Kriegsschiff, als wäre es ein Luxusliner. Als plötzlich das Meer unter dem Schiff fehlt, zerbrechen die Hierarchien zwischen Passagieren der ersten Klasse, den Unterschichten und auch der Schiffsmannschaft. Auf dem Schiff in den Wolken bricht das Chaos aus, wer die Schusswaffe hat, bestimmt über Leben und Tod. Als die Vorräte aufgebraucht sind, essen sich die Menschen gegenseitig auf.

Kulinarisches Kino der Sonderklasse, denn – so heißt es ja zumindest – Menschenfleisch schmeckt gar nicht schlecht. Ich hätte es allerdings nicht roh verzehrt sondern die durchaus noch funktionierende Bordküche verwendet.

Doch – wie Michael Jackson es einst so schön sagte: „It’s only a movie.“ Vergessen wir bei all den unappetitlichen Szenen, dem lärmenden Geschrei und exzessiven Vergewaltigungsorgien nicht, dass es sich um die grausame Parabel auf die Natur des Menschen handelt. Jede Figur, jeder Gegenstand (wie zum Beispiel der Revolver), symbolisiert nur etwas anderes, und es sind nur die Symbole und die Metaphern, die sich hier kannibalisieren und vergewaltigen.

Insgesamt der unerfreulichste Beitrag in diesem Jahr, denn – man kann es für ein bedeutsames Statement halten. Vielleicht sollten wir aber nicht alles in der letzten Konsequenz auf die Triebe zurückführen.

FORUM

17.

WALDHEIMS WALZER

(Ö., R.: Ruth Beckermann)

Vor über dreißig Jahren trat der ehemalige UN-Generalsekretär Kurt Waldheim zur Wahl zum österreichischen Bundespräsidenten an. Just zu jenem Zeitpunkt wurde die von ihm verleugnete Vergangenheit als NS-Soldat bekannt, der an Greueltaten der Nazis beteiligt war.

Der dokumentarische Essay von Ruth Beckermann, die selber damals in antifaschistischen Aktionskomitees engagiert war, rekonstruiert aus eigenen Filmaufnahmen und auch aus Fernseh-Archivmaterial den Verlauf der hitzigen politischen Debatten und Anschuldigungen.

Die Maske des Humanismus, mit der sich Waldheim seit dem Krieg stets getarnt hatte – auch vor sich selbst – gerät ins Bröckeln. Auf die Anschuldigungen geht er nur soweit ein, dass er sie als eine „ganz normale Erfüllung seiner Pflicht als Soldat“ hinzustellen versucht.

Die Strategie des Jüdischen Weltkongresses, den Wahlkampf von Kurt Waldheim zu torpedieren, geht leider nicht auf, und das ist der eigentliche Skandal, der vor allem erst jetzt durch die Dokumentation klar wird. Dieser Skandal ist das hanebüchene Verhalten der ÖVP, die die Anschuldigungen gegen Waldheim nutzt, um wiederum ihrerseits mittels unverhohlenem Antisemitismus auf Stimmenfang im Wahlkampf zu gehen.

Zusätzlich zeigen die eigenen Dokumentaraufnahmen der Filmemacherin aus den Begegnungen ein trauriges Bild der österreichischen Gesellschaft der Achtziger Jahre. Der Schritt nach rechts war immer der einfachere, der naheliegendere. Was in Österreich leider immer gefehlt hat, ist eine Aufarbeitung der eigenen Schuld an Greueltaten während der Zeit des Nationalsozialismus.

Diese fehlende Aufarbeitung führte letztlich auch heutzutage wieder zum enormen Rechtsruck in Österreich. WALDHEIMS WALZER ist nur ein Tropfen auf dem heißen Stein.

Nachtrag: Der Film hat den „Glashütte Original“ – Dokumentarfilmpreis gewonnen.

BERLINALE CLASSICS

18.

TOKIO IN DER DÄMMERUNG

(Japan 1957, R.: Yasujiro Ozu)

Bereits vor einigen Jahren lief im Forum eine Mitternachtsreihe mit Werken von Yasujiro Ozu, dem Meister des japanischen Neorealismus. Auch von ihm wird nun ein digital restaurierter Film auf der Berlinale erstaufgeführt, und zwar das Familiendrama „TOKIO IN DER DÄMMERUNG“ aus dem Jahre 1957.

Über den Straßen des kalten Tokios Ende der 50’er Jahre liegt der Smog, die Menschen sind mit Atemschutzmasken unterwegs. Wie eine unheilvolle Vorankündigung späterer Tragik senkt sich die Schranke herab für einen durchfahrenden Zug.

In den kleinen Lokalen wird getrunken und gespielt, in den Fabriken gearbeitet. Dazwischen spielt sich eine unscheinbare Suche zweier erwachsener Schwestern nach ihrer Mutter ab, die sie vor langer Zeit verlassen hatte, und der alleinerziehende Vater, ein erfolgreicher Geschäftsmann, erkennt, dass er bei aller Liebe seinen beiden Töchtern kein glückliches Zuhause bieten konnte.

Die eine der beiden Töchter zerbricht an der Kälte, die andere gewinnt innere Stärke und Kraft. Die Nachkriegszeit wird lebendig, und die Schattenseiten des Lebens in der Moderne treten in den Vordergrund.

Das alles wird völlig unsentimental erzählt und geht gerade daher umso mehr zu Herzen.

FORUM

19.

MADELINE’S MADELINE

(USA, R.: Josephine Decker, R: Helena Howard, Miranda July, Molly Parkes)

Madeline ist eine junge Frau, die an einem Theaterworkshop teilnimmt. Hier wird improvisiert und erprobt, ein Stück soll sich aus dem gemeinsamen kreativen Prozess entwickeln. Doch Madeline kämpft auch mit schweren psychischen Störungen, die Madeline auf der Bühne nicht nur auslebt, sondern die auch eine extrem wilde Unkontrollierbarkeit entwickeln können.

In diesem faszinierenden Spiel von Kreativität und Besinnungslosigkeit, man könnte auch sagen, dem Ineinanderspielen von Kultur und Anima, entfaltet der Film seinen unwiderstehlichen Reiz. Doch auch die gesamte Theatergruppe wird in den magisch-animalischen Bann von Madelines zweiter Persönlichkeit gezogen. Evangeline, die Leiterin des Theaterworkshops, wird ausgesperrt und hat keine Kontrolle mehr über die wilde Performance, die sich zu einem nicht vorhersehbaren Ende steigert.

Ein starkes Statement über das Verhältnis von Kultur und Wahnsinn, mit Helena Howard, einer beeindruckenden Darstellerin der Titelfigur.

RETROSPEKTIVE

20.

IHRE MAJESTÄT, DIE LIEBE

(D., R.: Joe May)

Ein charmanter Playboy soll seine Verlobung mit einem Barmädchen lösen und durch eine Geldheirat dem Familienbetrieb finanziell voranhelfen. Eine turbulente Tonfilm-Operette voller Aberwitz und Unfug bis hin zu einem rasanten Showdown.

Auch heute kann man über viele Dinge herzlich lachen, besonders wenn ein Blumenstrauß gleich mehrmals aus dem Fenster geworfen wird, aber durch obskure Umstände immer wieder zu der Angebeteten zurückkehrt.

Auch die Nichte des Playboys und ihr Tanzlehrer fungieren als zweites Liebespaar als Comic „Relief“ – sogar mit umwerfenden Tanzszenen obskurer Natur.

PERSPEKTIVE DEUTSCHES KINO

21.

FEIERABENDBIER

(D., R.: Ben Brummer)

Der Barkeeper Magnus hat eine große Leidenschaft: seinen Mercedes SEC. Mit seinem Freund Dimi, der Philosophie studiert, um dadurch besser Mädchen abschleppen zu können, diskutiert Magnus die Unterschiede zwischen „Sucht“ und „Leidenschaft“. So ist man ja zum Beispiel nicht „süchtig“ nach Klavierspielen, oder man hat keine „Passion“ fürs Alkoholtrinken.

Doch dann wird das geliebte Auto geklaut, und Magnus macht sich wie besessen auf die Jagd nach dem Autodieb, auch wenn sich jetzt mal wieder Gelegenheit ergibt für andere Dinge im Leben – wie zum Beispiel Frauen… Die erste Zufallsbegegnung mit dem vermeintlichen Täter findet in einem Swingerklub statt (Einblendung Filmausschnitt).

In der Zwischenzeit muss er sich also noch mit einer neuen Freundin, seiner Ex-Freundin, ihrem gemeinsamen Sohn und auch den wenigen Gästen seiner Kneipe widmen, die alle ihre eigenen Probleme haben. Trotz aller Aufregung ist die Kneipe wie ihre eigene Welt, ein Ruhepunkt, in dem die Außenwelt ausgeblendet werden kann.

In einer Nebenrolle glänzt hier ganz besonders Christian Tramitz als einer der Stammgäste der Kneipe – einem höchst unorthodoxen Esoteriker mit entsetzlichem Modegeschmack.

Auch die Frauenfiguren entsprechen keinerlei gängigen Klischees und haben was zu sagen. Wenn die Philosophiestudentin Tini mit Substanz Paroli bietet, so was gefällt. Der Hauptdarsteller Tilman Strauß erinnert von der Art und seinem Aussehen her ein wenig an Ethan Hawke. Es könnte sein, dass mir die leichte Komödie mit dem originellen Schluss auch deshalb gefällt.

Auf die Frage, wie sich Strauß auf die Rolle des Magnus Maier vorbereitet habe, hat er übrigens lakonisch geantwortet: „Ich habe den Text gelernt. Das zahlt sich meistens aus.“

Auch „FEIERABENDBIER“ kommt am 15. März in die Kinos.

 

FORUM EXPANDED

22.

Programm V:

WE LIVE IN SILENCE – Chapters 1-7

(Simbabwe, R.: Kudzanai Chiurai)

Wie reglose Wandgemälde erscheinen die üppigen sieben Tableaux Vivants zunächst, die die Geschichte des Kolonialismus und der Versklavung der afrikanischen Migrantinnen noch einmal beleuchten: Prachtvolle Farben, eindrucksvolle Posen der weißen Versklaver und der unterdrückten afrikanischen Migranten und Migrantinnen.

Wie sich die Kamera und der Blick langsam zurückziehen, verändert sich auch allmählich die bislang erstarrte Szenerie, und Erstaunliches oder Entsetzliches geschieht. Die Zeitlupe erschien wir eine Meditation, die Veränderung wirkt nun umso traumatischer.

Geschichte wird nicht aufgearbeitet, sondern eine zweite, eine andere Geschichte wird entworfen aus dem Blickwinkel der afrikanischen Kultur.

Im kritischen Blickwinkel des Regisseur ist die Unterschiedlichkeit der Sprachen, und die neu entworfene Geschichte seiner Figuren tritt vor allem den Vorurteilen der weißen Kolonialisten entgegen, die afrikanischen Migrantinnen müssten ebenso denken und sprechen und Sprache verstehen wie sie selber.

Eine Pietaskulptur oder da Vincis Abendmahl werden mit neuen Akteuren besetzt, nämlich schwarzen Frauen, dies ist hart an der Grenze zum Kitsch, bleibt aber im Rahmen des politischen Kunstwerks vertretbar.

CELLULOID CORRIDORS (SERMON)

[D., R.: Dalia Neis, Mohamed A. Gawad und Andreas Reihse (Chef der Formation Kreidler)]

Ein Film ohne Bild, stattdessen kreischende Klänge, gesprochene Proklamationen, synthetische Klangflächen. Neben dem Ambient-Dark-Sound sind amerikanische Frauenstimmen vernehmen mit einem kulturwissenschaftlichen Name Dropping von Spinoza über Maya Deren bis hin zu Charles Bronson.

Das Ergebnis ist ein Audio-Essay, ein Manifest des Films und eine umfassende Untersuchung der Filmgeschichte in glücklicherweise nur elf Minuten…

CONTRA-INTERNET: JUBILEE 2033

(USA, GB, R.: Zach Blas, D: Susanne Sachsse)

Im Jahre 1955 unternimmt die amerikanische Philosophin Ayn Rand (dargestellt von Susanne Sachsse) einen LSD-Trip, der sie in das dystopische Silicon Valley der Zukunft des Jahres 2033 versetzt. Hier erleben Rand und ihre Manga-Begleiterin, die künstliche Intelligenz Azuma, das Ende des Internets. Die Firmenkomplexe von Google, Facebook und Google stehen lichterloh in Flammen.

Zu den Klängen von Andrea Bocellis „Con Te Partiro“ öffnet sich am Strand der neue Horizont.

Zach Blas’ fortlaufendes Projekt Contra-Internet setzt sich mit der wachsenden Hegemonie des Internets auseinander. Während es in den 1990er Jahren noch als neutrales Netzwerk wahrgenommen wurde, hat sich das Web inzwischen zum wichtigsten Instrument eines beschleunigten Kapitalismus, der Überwachung und Kontrolle entwickelt: eine Infrastruktur, zu der man sich nur noch schwer eine Alternative oder ein „Außen“ vorstellen kann. Contra-Internet nutzt im Gegenzug feministische und queere Ansätze zu Technologie und Science-Fiction, um Spekulationen über Widerstandsformen gegen das Internet der Gegenwart und nahen Zukunft anzustellen.

Der Film CONTRA-INTERNET: JUBILEE 2033 ist inspiriert durch Derek Jarmans Queer-Punk-Streifen JUBILEE. In diesen neuen Kontext passt auch Susanne Sachsse sehr gut, die mit ihrem eigenen hyperkünstlichen Stil bereits eine Reihe von Filmen in den letzten Jahren bereichert hat – so zum Beispiel mit THE MISANDRISTS im Panorama 2017.

FORUM EXPANDED

23.

Programm II:

THE RARE EVENT

(GB, R.: Ben Rivers, Ben Russell)

Schlafbücher müsste es geben: von zähflüssigstem Stil, mit schwer zu kauenden Worten, fingerlangen, die sich am Ende in unverständliche Silbenkriegel aufdrieseln; Konsonantenarreteien (oder höchstens mal ein dunkler Vokal auf ‚u‘): Bücher gegen Gedanken.“

So hat es Arno Schmidt einmal gesagt.

Zumindest einen Schlaffilm gibt es nun: THE RARE EVENT.

THE RARE EVENT wurde während der dreitägigen Eröffnungsveranstaltung eines „Ideen-Forums“ gedreht, in dessen Fokus die vielgestaltigen Möglichkeiten von Widerstand („Resistance“ – so der Titel von Jean-François Lyotards unvollendetem Nachfolgewerk zu seinem 1983 veröffentlichen Buch „Les Immateriaux“) standen. Auf den ersten Blick wirkt der in einem Pariser Aufnahmestudio mit knarzendem Holzfußboden gedrehte Film wie die strukturalistische Dokumentation einer philosophischen Diskussion im Stuhlkreis. Doch selbstverständlich trügt diese „Erscheinungsdimension“ und so wird, mithilfe eines immersiven Soundmix, eines grünen Mannes, eines endlosen Nichts in Grüner-Mann-Form, einer Dosis kinetisch-digitaler Magie (mit freundlicher Unterstützung des US-amerikanischen Künstlers Peter Burr) und eines beeindruckenden Ensembles von Denker*innen, Kritiker*innen, Kurator*innen und Künstler*innen das Dokument der „Resistance“ langsam in ein seltenes Ereignis, ein „Rare Event“, transformiert – in ein Portal, das alle Dimensionen in eins fallen lässt.

Etienne Balibar raisonniert über die Affinität zwischen Magie und Kausalität, Manthia Diawara wünscht sich und uns eine Rückkehr der Poesie in die Philosophie. Und dazu wird die Erkenntnis geliefert: Kontinuität ist auch Diskontinuität.

Im virtuellen Raum verschmelzen die substantiellen Manifeste zum kakophonischen Pandämonium. Die Philosophen Frankreichs interagieren über die Mittelsfigur des „Grünen Mannes“ (der somit auch gleichzeitig als GREEN SCREEN fungiert) mit den spartantischen schwarzweißen Mustern und Formen einer TRON’schen Computerwelt, die die absolute Offenheit für moderne inhaltliche Komplexität darstellt.

Doch wenn man am Anfang des Films beinahe einschläft und die Informationen lediglich halb-dösend direkt in seinem Unbewussten abspeichert, hat man ebensowenig was falsch gemacht.

Freitag, 16.2. – Tag 2 – Daniel

Bevor ich mir die ersten Filme des Tages ansah, besuchte ich die Ausstellung „A Mechanism Capable of Changing Itself“ im Rahmen der Sektion FORUM EXPANDED, die in der Akademie der Künste zu sehen ist.

Der Ausstellungstitel geht auf eine Randnotiz von Maya Deren zurück. Diese schrieb 1947: „Marxismus – die einzige politische Theorie, die einen Mechanismus entwickelt, der sich selbst verändern kann.“ Maya Deren, Pionierin des Avantgarde-Films, übertrug die Idee auf das Kino, um neue Formen der Wahrnehmung zu erzeugen. So wurde das Kino durch Fragen, Aufzeigen oder Analyse politisch und konnte Veränderungen im Weltgeschehen herbeiführen, gerade mit der dokumentarischen Form – auf welcher daher auch in diesem Jahr wieder ein besonderer Schwerpunkt liegt bei FORUM EXPANDED.

Das Qualitätsspektrum der dreizehn Installationen variiert allerdings von äußerst belanglos bis hin zu besonders eindrucksvoll. Letzteres trifft z.B. auf „The Third Part of the Third Measure“ von der Otolith Group zu, einer 2-Kanal-Videoinstallation in einem hermetisch abgeschirmten Vorführraum innerhalb der Veranstaltungsräume (was daher wie eine Black Box wirkt), welche sich mit der Diskrepanz zwischen Authentizität und politisch korrektem Sprachgebrauch befasst.

Danach geht es um 17.00 Uhr endlich richtig los mit der ersten Kino-Vorstellung des Tages.

FORUM DES JUNGEN FILMS:

1.

GEORGES MÉLIÈS – ‚SOLITUDES‘ CINE-CONCERT

Heute wurde die Sektion FORUM offiziell eröffnet. Im Delphi Filmpalast wurden sieben Kurzfilme von Georges Méliès gezeigt – mit exotisch-elektronischer Live-Musik von fünf Musikern aus Beirut: Sharif Sehnaoui (Gitarre), Khyam Allami (Oud), Magda Mayas (Flügel), Tony Elieh (Bass) und Abed Kobeissy (Buzuk). So war das Kino gleichzeitig uralt und blutjung auf einmal.

Phantasievolle Kulissen und Kostüme, ein Lebendigkeit und Komplexität suggerierendes Statisten-Ensemble, faszinierende Spezial-Effekte mittels Ineinanderblendung von Szenen oder raffiniertem Filmschnitt. Méliès zog bei jedem seiner Filme alle Register seines Könnens und war kinematologisch State of the Art. Und doch stellt sich, wenn man sieben Filme hintereinander sieht, ein gewisser Wiederholungseffekt ein. Meistens sind es Entdeckerfahrten ins Exotische, oft wird Jules Verne adaptiert wie bei der „Reise zum Mond“ oder den „20.000 Meilen unter dem Meer“. Auch die Figurentypen und die Statisten sind immer dieselben, und der Plot variiert nur gelegentlich.

LE DIABLE AU CONVENT

(Frankreich, R.: Georges Méliès)

Das Erscheinen des Teufels in einem Konvent sorgt für Verwicklungen. Zum Schluss muss der Erzengel Michael eingreifen, um die Lage unter Kontrolle zu bringen.

Link zum Youtube-Clip des Films.


NOUVELLES LUTTES EXTRAVAGANTES

(Frankreich, R.: Georges Méliès)

Großartige Ringkampf-Parodien. Durch den Schnitt (mit Austauschen von Schauspielern durch lebensgroße Puppen) entstehen unglaublich komische Szenen.

Link zum Youtube-Clip einer Aufführung mit Live-Musik und Begleitkommentar von Marie-Hélène Léherissey (der Enkelin von Georges Méliès) in Venedig aus dem Jahre 2014.


VOYAGE À LA LUNE

(Frankreich, R.: Georges Méliès)

Der besondere Klassiker, der vor einigen Jahren auch mit einem Soundtrack der Musikformation Air aufgeführt wurde. Auf einem Kongress beschließt eine Schar von ehrwürdigen Astronauten, einen Flug zum Mond zu wagen. Ein weibliches Kadettenkorps, das Jules Verne vermutlich eher befremdet hätte, verabschiedet sie mit allen Ehren. Sie besteigen eine Rakete, die von einer überdimensionalen Kanone abgeschossen wird. Die Szene, in der die Rakete sich in das Auge des Mondgesichtes bohrt, ist ikonisch geworden. Bei der Erforschung der Oberfläche werden die Astronauten von den Mondbewohnern gefangengenommen und vor den Mondkönig geschleppt. Es stellt sich jedoch heraus, dass dieser im wahrsten Sinne leicht zur Explosion gebracht werden kann durch Kontakt mit einem Erdenregenschirm. Die Flucht vom Mond gelingt, und die Rakete kehrt zur Erde zurück, wo sie im Meer landet (eine letztlich sehr realistische Vision, bedenkt man die Rückkehr der tatsächlichen Apollo-Kapseln knapp sieben Jahrzehnte später). Stolz präsentieren die kühnen Forschungsreisenden einen zufällig gefangenen Mondbewohner.

Natürlich kann man die Darstellung der Mondbewohner als extrem rassistisch bezeichnen.

Link zum Youtube-Clip des Films

VOYAGER A TRAVERS L’IMPOSSIBLE

(Frankreich, R: Georges Méliès)

Hier wiederholen sich die Motive und Effekte aus VOYAGE À LA LUNE besonders auffällig, aber Méliès hat noch einige Steigerungen parat.

Link zum Youtube-Clip des Films

QUATRE CENTS FARCES DIABLES (The Merry Frolics of Satan)

(Frankreich, R.: Georges Méliès)

In einem Observatorium geht plötzlich nichts mehr mit rechten Dingen zu, auch auf der nachfolgenden Eisenbahnfahrt der kleinen Reisegesellschaft in andere ländliche, düstere oder tropische Gegenden kommt es zu sonderbaren Vorfällen. Das Paradies wird zur Hölle. Und wieder hat der Teufel seine Hände im Spiel. Oder ist alles doch nur ein Traum?

Link zum Youtube-Clip des Films


20.000 LIEUX SOUS LES MERS

(Frankreich, R.: Georges Méliès)

Die dritte Variation des Entdeckerfahrtenmotivs, diesmal mit eindrucksvollen Unterwasserkulissen, Ritt auf Seepferdchen, Tanz der Aqua-Nymphen und dem Kampf gegen den Riesen-Oktopus und den Riesenkrebs.

Link zum Youtube-Clip des Films


L’ECLIPSE (The Courtship of the Sun and the Moon)

(Frankreich, R.: Georges Méliès)

Die Gesichter vom Mond und der Sonne sind schon sehr lustig anzusehen, wie sie sich immer näher kommen und dann bei der Sonnenfinsternis verschmelzen.

Link zum Youtube-Clip des Films

BERLINALE SHORTS

2.

Programm IV: In der Nacht ist das Flüstern ein Tosen

DES JEUNES FILLES DISPARAISSENT

(Frankreich, R.: Clément Pinteaux)

Plötzlich ist ein Film schön, aber auf ganz andere Art und Weise als bisher: Concept Art und sublim, die Geschichte erzählt sich jenseits der Bilder und der Menschen. Wir sehen Aufnahmen von Landkarten französischer Landschaften und hören die Geschichte vom Wolf und den Mädchen: Zwischen 1652 und 1657 wurden in Essonne in Frankreich 58 Mädchen von einem Wolf verschlungen. Vier Jahrhunderte später verschwinden in dieser Region wieder junge Frauen.

Ein Mädchen in der Schule spricht von ihrer verschwundenen Freundin. Wir sehen viele Aufnahmen von Mädchen, jungen Frauen, die auf eine Weise schön sind, wie es sie nur in Frankreich gibt. Geistliche Musik ertönt. Welche geheimnisvolle Verbindung besteht zwischen dem Jetzt und den Ereignissen im 17. Jahrhundert?

AND WHAT IS THE SUMMER SAYING

(Indien, R.: Payal Kapadia)

Der Wind weht, es wird Nachmittag am Rande des indischen Dschungels. Aufnahmen des Waldes, durch den der Wind weht, so poetisch wie Tarkowskis „Serkalo“. Ähnlich wie bei Tarkowski wechseln auch Farbszenen mit Szenen in Schwarz-Weiß. Die Frauen des Dorfes flüstern sich die Geheimnisse vergangener Lieben zu. Ein karges Haus. Ein Rauch steigt aus dem Boden auf, wie der Traum einer längst vergangenen Zeit.

Und was macht der Sommer?“

MADNESS

(Portugal / Frankreich / Mosambik / Guinea-Bissau / Katar, R.: João Viana)

Lucy ist verrückt. Sie lebt in einer psychiatrischen Anstalt. Sie sucht ihren Sohn, den sie vor ihrem inneren Auge immer wieder vor sich stehen sieht. Der Ausbruch gelingt. Das Krankenbett wird zum Flugzeug transformiert – ist es ein Traum oder eine Wahnvorstellung? Das Theater von Antonin Artaud dient als Grundlage einer anderen Inszenierung von Wirklichkeit.

CITY OF TALES

(Frankreich, R.: Arash Nassiri)

Und wieder Menschen in der Nacht. Eine Geschichte in der Nacht über die Stadt der Geschichten.

Los Angeles wird Teheran. Und die Einwohner sprechen kein Englisch mehr. Sie sprechen eine persische Mundart, und selbst die Chips-Tüte im Seven Eleven fängt in der fremden Zunge zu plappern an.

Zwei Metropolen, die durch mehr Differenzen getrennt zu sein scheinen als nur die große Entfernung, sind einander letztlich doch viel ähnlicher als man denkt.

COYOTE

(Schweiz, R.: Lorenz Wunderle)

Ein Trickfilm über die Rolle, die der Tod für die Tiere spielt – aus ihrer Sicht, aus der Sicht eines Koyoten, der Hauptfigur.

Er hat alles verloren, seine Frau, seine Kinder. Er versucht der Trauer zu entkommen.

Der Koyote tritt eine mystische Reise durch die Halbwelt des Todes an. Der Tod ist ein riesiger Büffel. Trauer und Wahn kommen dichter. Der Kojote heult.

Die Ästhetik der Trickfilmtechnik in expressionistischer Farbgestaltung ist besonders ansprechend.

FORUM

3.

FOTBAL INFINIT

(Rumänien, R.: Corneliu Porumbolu)

Es dauert ein klein wenig, aber auf einmal – scheinbar ganz unmerklich – hat dieser Film seinen Weg gefunden zum Herzen des Zuschauers. Natürlich ist man erst mal verwirrt über LAURENTIU GINGHINÄ, den Mann, der – nach einer schlimmen Verletzung bei einem Fußballspiel vor dreißig Jahren – es sich zur großen Aufgabe seines Lebens gemacht hat, die Regeln des Fußballspiel neu zu definieren und komplett zu verändern.

Beharrlich verfolgt er sein Ziel eines humaneren, freieren und auch anmutigeren Fußballsports, wendet sich an allen Instanzen und lässt sich nie entmutigen – dynamisch und flexibel stellt er sich auf jedes Hindernis ein. Im permanenten Gespräch mit dem Filmemacher, der ihn ständig begleitet, offenbart sich auch schließlich der eigentliche Humor des Films. Die scheinbarer Vertracktheit der komplizierten Regeln löst sich auf in Gelassenheit und Leichtigkeit.

Besonders rührend und amüsant ist es, wie sich Laurentiu selbst sieht, als Verwaltungsangestellter mit Doppelleben wie ein Superheld, dessen eigentliche Mission die Verbesserung des Fußballsports ist.

Die Pointe des Films wird vielleicht nicht jedem auffallen, als zwei Mannschaften versuchen, das Spiel nach den neuen Regeln zu spielen. Das Spielfeld ist unterteilt in mehrere Spielerzonen mit mehreren Unterteams, die sich nur jeweils in ihren eigenen Zonen aufhalten dürfen. Man bekommt nun den Eindruck, etwas ganz anderes zu sehen als Fußball.

Ein Film nicht nur für Fußballfreunde, vielleicht für die sogar wesentlich weniger geeignet.

Weitere Vorführtermine:

Di 20.02. 14:30
Delphi Filmpalast

Do 22.02. 22:00
Zoo Palast 2

PERSPEKTIVE DEUTSCHES KINO

4.

STORKOW KALIFORNIA

(D., R.: Kolja Malik)

Die Handlung des Songs „Hotel California“ von den Eagles wird hier in diesem Kurzfilm gewissermaßen noch einmal erzählt, wenn auch auf eine ganz andere Weise. Sunny kommt aus Storkow, einer Kleinstadt in Brandenburg, mit dem Regionalzug und einmal Umsteigen wäre man eine bis drei Stunden unterwegs, um nach Berlin zu kommen.

Doch soweit wird es niemals kommen. Statt dessen ist der junge Mann hin- und hergerissen zwischen seiner Mutter Nena, die auch sein bester Kumpel ist, und einer neuen Liebe, einer attraktiven Verkehrspolizistin, die sich auch zu Sunny hingezogen fühlt. Während Nena zerbrochen ist an der Sucht nach Drogen und Alkohol und nur noch Halt findet in der Liebe zu ihrem Sohn, den sie mit allen Mitteln an sich zu binden weiß, träumt dieser vom Ausbruch und der Flucht nach Berlin.

Der zermürbende Trip zwischen Dableiben und Fortgehen wird kein Ende nehmen. Schöne Bilder eines endlosen Deliriums einer verlorenen Jugend im Schnee.

RÜCKENWIND VON VORN

(D., R.: Philipp Eichholtz)

Die junge Berliner Lehrerin Charlie hat es nicht leicht mit sich selbst, unentschlossen zwischen ihrem Wunsch, ihren Beruf auszuüben und der Sehnsucht danach, ihrer Freundin auf eine Reise ins ferne Asien zu folgen. Dazu kommt dann auch noch der Wunsch ihres Freundes nach einem Kind und einer Familie (Einblendung Filmausschnitt). Da muss sich Charlie zuerst ein wenig nach allen Seiten hin verstellen.

Dazu wird dann auch noch ihre geliebte lebenslustige Großmutter krank. So wechseln die Prioritäten für Charlie, bis keine Kompromisse mehr möglich sind. Ist Erwachsenwerden einfach und Erwachsensein schwer? Charlie hätte gern wieder etwas von der Aufregung von früher zurück, als sie bis in die Morgenstunden tanzen war. Der Karneval der Kulturen ist da nur ein Trostpflaster. Anderen fällt das offenbar leichter, dieses Erwachsensein. Statt Veränderung sieht sie bei sich nur noch Stillstand. Von irgendwo muss frischer Wind her.

Eine Komödie mit ein paar ernsten Aspekten zu Alter und Tod, jedoch ohne zu viel Drama. So kommt der Film mit einem positiven Ende doch noch zu einem abgerundeten Gesamtbild – Charlie entscheidet sich für ihren eigenen Weg.

Der Film „Rückenwind von vorn“ startet übrigens am 15. März in den Kinos.

 

PANORAMA

5.

MALAMBO, EL HOMBRE BUENO (Malambo, the Good Man)

(Argentinien, R.: Santiago Loza , D.: Gaspar Jofre, Fernando Muñoz, Pablo Lugones, Nubecita Vargas, Gabriela Pastor, Carlos Defeo)

In magischen Schwarz-Weiß-Bildern entführt uns Santiago Loza in die Welt des argentinischen Malambo-Tanzes. Man muss auch sehr dankbar sein für diese Wahl „Schwarz-Weiß“, denn in Farbe wäre die Leidenschaft des Films im Exotismus schillernder Kostüme und farbenprächtiger Folklore untergegangen.

Es genügen gelegentliche dezente Einblendungen von ROT an den entscheidenden Stellen. Der Protagonist, der junge Tänzer Gaspar, hat sein Leben der Leidenschaft des Malambo-Tanzes verschrieben, doch seine Hingabe forderte bereits erste körperliche Opfer. Dennoch verfolgt er zielstrebig sein Ziel, kämpft gegen die Rückenschmerzen, bis er seinen Wettkampf antreten kann.

Als Fiktion mit dokumentarischem Charakter zeigt uns der Film eine andere Kultur – die harte Welt der um ihren einmaligen Erfolg kämpfenden Tänzer, wie auch das Schicksal, das nach dem Erfolg kommt. Gaspar wird selber Malambo-Lehrer für einen neuen aufstrebenden Tänzer, während sein eigener Lehrmeister auf Kreuzfahrtschiffen zur Abendunterhaltung auftritt.

Wenig Farbe, viel Charakter.

Weitere Vorführtermine:

Mi 21.02. 20:15
CineStar 3

Sa 24.02. 20:15
CineStar 3

FORUM

6.

CLASSICAL PERIOD

(USA, R.: Ted Fendt)

Der amerikanische 16-mm-Streifen mutet beinahe an wie eine Verfilmung von „Zettels Traum“, nur dass die Protagonisten nicht über Edgar Allen Poe raisonnieren sondern über Dantes Göttliche Komödie. Es passiert nicht viel, nur dass die Hauptfigur Cal unermüdlich mit allen seinen Gesprächspartnern über Literatur, Poesie, Religion und Kunst spricht – ganz wie ein unbesiegbarer Bildungsprotz.

Was in der eigentlichen Handlung passiert: Die drei oder vier Hauptfiguren laufen durch die Straßen oder treffen sich in irgendwelchen Räumen. Es findet keine Kommunikation statt, man textet sich nur gegenseitig zu wie ein Quartett aus Dozenten, die sich gar nicht mehr zuhören.

Vielleicht sind die Geschichten, die sie sich erzählen über die titelgebende Klassische Epoche, die eigentliche Geschichte – wie das Echo einer vergangenen Welt, wo sich die Menschen noch tatsächlich in konstruktiven Dialogen weiterentwickelt haben. Hier jedenfalls schalten Cal und die seinigen nur um vom Modus „REDEN“ auf den Modus „ZUHÖREN“, ohne dass es sie in irgendeiner Weise noch voranbringt.

Ein zwiespältiger Beitrag im Forum, nicht zuletzt aufgrund des teilweise sehr schlechten Tons.

BERLINALE SPECIAL GALA

7.

THE BOOKSHOP

(GB, R.: Isabel Coixet)

Der Film lässt die Atmosphäre im England des Jahres 1959 entstehen. Emily Mortimer spielt eindrucksvoll die idealistische Buchhändlerin Florence Green, die ihren Traum verwirklichen will und in dem kleinen Küstenort Hardborough einen Buchladen eröffnet. Mehr und mehr muss sie dabei gegen eine spießige Gesellschaft ankämpfen, als sie in ihrem Schaufenster auch das umstrittene Werk „Lolita“ von Vladimir Nabokov ausstellt.

Zwischen den Szenen des Dramas wie Kapitelüberschriften das langsame Dahingleiten des Blickes auf die idyllischen Seen- und Meereslandschaften.

Julie Christie erscheint als Erzählstimme anfangs etwas zu präsent, doch nach einigen Minuten überlässt sie es der Geschichte, sich durch die Szenen und Figuren selber zu erzählen.

Und Bill Nighy, den man hauptsächlich aus Nebenrollen kennt, hat hier einmal endlich in einer Hauptrolle die Gelegenheit, als misanthropischer Bücherliebhaber Brundish sein ganzes Können zu zeigen.

BERLINALE SHORTS

8.

Programm I: Hohe Bäume werfen kurze Schatten

ALMA BANDIDA

(Brasilien, R.: Marco Antônio Pereira)

Fael will seiner Freundin ein Geschenk machen. Seine Krankheit, die Leidenschaft heißt, schreit laut durch die Straßen der Stadt. Das Loch in der Erde, welches unheilvoll wie ein Grab droht, wird zum Hoffnungsträger, denn dort sind die wertvollen Kristalle.

Zwischen Armut und Verzweiflung stehen immer noch die Hoffnung und der Traum.

RUSSA

(Portugal/Brasilien, R.: João Salaviza & Ricardo Alves Jr.)

Russa kehrt aus dem Gefängnis zurück in ihr Zuhause, die Banleius von Porto, um mit ihrer Schwester und Freunden den Geburtstag ihres Sohnes zu feiern. Ihr Haus ist verschlossen, viele der Gebäude von früher stehen nicht mehr. Ein Hochhaus wird gerade gesprengt.

Was hat die Freiheit überhaupt zu bieten?

AFTER/LIFE

(USA, R.: Puck Lo)

Leben und Sterben zwischen der Inszenierung von Krieg und dem Alltag der Migration in die Vereinigten Staaten von Amerika – die Wüste lebt, und wo sind ihre Toten?

BLAU

(D., R.: David Jansen)

Der Ozean. Eine unendliche Tiefe, wie auch Weite. Ein alter Volksglaube besagt, dass ein Wal sein ganzes Leben lang träumt. Eine Walkuh und ihr Kalb. In dem Animationsfilm BLAU verweben sich Leben und Mythos des großen Meeressäugers zu einer phantastischen Geschichte. Walfänger und U-Boote fehlen dabei nicht, doch im Traum erhebt sich der Wal aus dem Wasser und fliegt durch die Lüfte, um schließlich vor der großen Stadt am Meeresstrand wieder zu landen.

Dort dann sein letzter Atemzug – auch in seinem wirklichen Leben. Ein wunderschöner und sehr trauriger Trickfilm.

BURKINA BRANDENBURG KOMPLEX

(D., R.: Ulu Braun)

In einem kleinen Dorf in Afrika wohnen die Eingeborenen – doch diese sind Brandenburger mit all ihren eigenen kulturellen Sitten und Gebräuchen.

Ein obskures und satirisches Natur-Ethno-Kunst-Märchen.

Ausgehend von dem, was in den Medien der westlichen Welt über Afrika erfahrbar ist, konstituiert Ulu Braun eine andere Geschichte des großen Kontinents.

Die Götter müssen noch verrückter sein.

Nachtrag: BURKINA BRANDENBURG KOMPLEX hat den „BERLIN SHORT FILM NOMINEE FOR THE EUROPEAN FILM AWARDS“ erhalten.

FORUM

9.

GRASS

Ein klassischer Caféhausfilm in schwarz-weiß, der aber aus Korea stammt, von HONG SANGSOO. Involviert sind einige Liebespaare, aber auch Künstler, Autoren, Schauspieler, es dreht sich viel um die Liebe, den Tod und die Kunst, natürlich spielen auch Alkohol und Nikotin ihre eigene Rolle.

Beobachtet wird alles von einer jungen Frau, die hier den Stoff findet für ihren neuesten Roman. Daneben spielt noch die klassische Musik eine besondere Rolle, vor allem RICHARD WAGNER und der geheimnisvolle Caféhausbesitzer, den wir nie zu Gesicht bekommen und der eine besondere Vorliebe für den Philosophen Nietzsche zu haben scheint.

Weiterer Vorführtermin:

So 25.02. 12:00
CineStar 8

RETROSPEKTIVE

10.

DIE LEUCHTE ASIENS

Ein Monumentalfilm aus dem Jahre 1925 von Hans Osten, gedreht in Indien, produziert aber von deutscher Seite, der größtenteils in der stilvollen Farbkombination WEISS – ROT und SCHWARZ präsentiert wird, leider mit etwas zu viel Massenaufmärschen, die ständig die Handlung ziemlich aufhalten.

Gewaltige Paraden von Menschenmengen an Statisten mit Elefanten oder Kamelen laufen da durch die Straßen, dazu gibt es viel Exotik und Kitsch vor den Kulissen indischer Tempel und Schlösser. Die Geschichte von dem Erleuchteten Gautama auf seinem Weg vom Prinzen zum Erleuchteten Buddha – wie auch die Geschichte seiner Frau, die ihm auf diesem Weg folgt – gerät bei all dem spektakulären Aufwand leider ein wenig in den Hintergrund.

FORUM

11.

11 x 14

(USA, R.: James Benning)

Die bizarre Chronik einer Reise ohne Grund durch den Mittleren Westen der USA und der Aufenthalte, von denen die Reise unterbrochen wird. Dieser erste Langfilm von James Benning lief 1977 im Forum des Jungen Films und markierte einen Wendepunkt seines Schaffens. Nun ist er in einer restaurierten Fassung in der Akademie der Künste wieder aufgeführt worden – in Anwesenheit des Regisseurs.

Faszinierend, wie die gängigen Konventionen des Kinos herausgefordert werden – so frage ich mich zum Beispiel, warum haben wir eine solche Obsession mit „Plot“ und „Story“? 11 x 14 „erzählt“ nicht und hat keine Story. Was wir sehen, sind Szenen, die sich der fahrenden Bewegung widmen, seien es lange Eisenbahnfahrten scheinbar ohne Ende, die Bewegung von dem Schatten eines startenden Flugzeuge, die Liebkosung eines wunderschönen Frauenkörpers durch die Hand einer anderen Frau, während gleichzeitig die Nadel über den Plattenteller wandert und wir in voller Länge das Stück „Black Diamond Bay“ von Bob Dylan hören (die Platte habe ich sogar). Die Schönheit der amerikanischen Zivilisation in den Siebziger Jahren tritt auf ihre eigene Art und Weise in Erscheinung.

PS: Der Mann heute Nachmittag im Café der Akademie der Künste mit den langen silbergrauen Haaren unter der Wollmütze (von dem ich dachte, er sei ein Obdachlosenzeitungsverkäufer), stellte sich kurze Zeit später auf der Bühne im Kinosaal als James Benning heraus.

Hier ein kleiner Ausschnitt, der die geniale Komposition der Bildelemente inklusive Wirkung von Licht und Schatten illustriert:

11×14, airplane shot (1977) from user1946100 on Vimeo.

PANORAMA DOKUMENTE

12.

FAMILIENLEBEN

(D., R.: Rosa Hannah Ziegler)

Ein Leben auf dem Land, aber kein Idyll. Eigentlich ein Stoff für RTL2-Realsoaps über dysfunktionale Familien, doch in diesem Dokumentarfilm gewinnen alle dargestellten Menschen an der dreidimensionalen Tiefe, die ihnen gebührt.

Biggi lebt mit ihren Töchtern Denise (17) und Saskia (14) auf einem Hof, den sie mit ihrem Ex-Freund Alfred und dessen Wutausbrüchen teilt. Ein Einblick in einen familiären Mikrokosmos voller Brüche und Träume – in schrecklich heruntergekommenen Kulissen, die für die vier die Wirklichkeit ihres Lebens sind.

Das Zusammenleben wird auswegslos unerträglich – ein Neuanfang ist notwendig, doch nicht für jeden wird daraus ein Happy End, wenn begangene Fehler ihren Tribut fordern.

Eine der intensivsten und ergreifendsten Dokumentationen der diesjährigen Berlinale.

Donnerstag, 15.2. – Tag 1 – Daniel

Während die offizielle Berlinale heute eröffnet wird, fand bereits gestern abend die Eröffnung der Sektion FORUM EXPANDED in der Akademie der Künste statt – dort werden Installationen und andere das übliche Kinoformat sprengende Multimedia-Experimente präsentiert – dieses Jahr unter dem Motto – „A MECHANISM CAPABLE OF CHANGING ITSELF“. Ich traf mich zuvor mit der Sektionsleiterin Stefanie Schulte Strathaus, um vorab einige der interessantesten Details in Erfahrung zu bringen.